Bernd Lenzner

Wanderungen durch Thüringen
und den "Rest der Welt"

..........

Anna

Wir hatten uns verspätet. In den Landgasthöfen gab es nur bis 14 Uhr Mittagessen, und es ging schon auf zwei Uhr zu. Der Vorfrühlingstag Mitte Februar hätte uns jedoch jede Eile, nur um etwas Warmes zu essen zu bekommen, sträflich erscheinen lassen. Der schmale Fußpfad am Waldrand mit den verrenkten Stämmen und den ins Leere greifenden Ästen der Buchen über dem Steilabbruch des Waldes in die darunter liegenden Obsthänge lag, von einem feinen Schattenmoiré abgesehen, in der vollen Mittagssonne. Von dem Dorf im Tal, zu dem wir noch eine knappe halbe Stunde brauchen würden, stieg Kaminrauch auf, schimmerten Dächer. Am Nordhang der gegenüberliegenden Talseite lag noch, so weit wie der Waldschatten hinabreichte, Schnee.

Doch wir hatten Glück. Unser Gasthof wimmelte zwar bis auf die Straße hinaus, wo Jungens in weißen Hemden und Mädchen in Sonntagskleidern herumsprangen, von den Gästen einer Hochzeitsgesellschaft. Aber an einem Tisch im Nebenzimmer war noch Platz, und einen Schlag Suppe für säumige Wanderer gab es auch noch. Ich hatte gerade zu löffeln begonnen, als mir über den Löffel hinweg das Kindergesicht auffiel. Es beobachtete mich bei meiner einfachen Tätigkeit, wie nur Kinder das können: mit einem dem Objekt der Beobachtung eigentlich gar nicht angemessenen Ernst, der sich in runden Augen und offenem Mund ausdrückte. Das Kind gehörte zu einem ungleichen Elternpaar. Zu einem schweren, großen Mann, der eben den zweiten Krug Bier bestellte, und einer zartgliedrigen, nicht mehr so jungen Frau mit einem gütigen, durch vieles Nachdenken oder den Schatten eines Kummers gereiften, schön gewordenen Gesicht.

Bevor ich weiteressen konnte, musste ich erst einmal "Hallo" zu dem Kindergesicht sagen, woraufhin ein kleines dankbares Lächeln erschien, so zart und anrührend, wie man es auch nur von Kindern, an der Schwelle zwischen Kleinst- und Kleinkind, kennt.

»Na, du bist aber ein Freundlicher.«

»...eine Freundliche!«, korrigierte der Vater und setzte sein Töchterchen in den Kinderstuhl, den man inzwischen gebracht hatte. Während ich nun tatsächlich weiteraß und dabei immer wieder über meinem Löffel die großen Augen und das kleine Lächeln suchte, bemerkte ich, dass mir meine Frau dabei Gesellschaft leistete. Die Augen des Kindes hatten sich jetzt dem Nachbartisch zugewandt, wo viel gelacht und laut geredet wurde. Sodass wir die kräftigen, fein ausgeformten Lider erkennen konnten, die ich vorhin übersehen hatte (und die angeblich kreative Begabung verraten). Noch vor den Lidern war mir das im Profil nicht weniger ausdrucksvolle Näschen aufgefallen, das ich ebenso putzig wie eigenwillig fand und das mich irgendwie an eine kleine sanfte Schafsnase erinnerte. Während meine Frau sich an jene Puppen erinnert fühlte, deren naive, unschuldige Mondgesichter dem Schutz- und Schonungsbedürfnis des Kindes gegenüber der Welt der Erwachsenen so einen betroffen machenden Ausdruck geben.

»Anna!«, rief die Mutter. Aber Anna war viel zu abgelenkt. »Anna, Annaaa«, und als das Töchterchen sich schließlich umdrehte: »Sieh mal, Anna, du isst doch Suppe so gern!«

Anna widersprach nicht, sondern ließ in ihrem süßen schafsnasigen Mondgesicht eine Öffnung entstehen, groß genug, um eine Esslöffelspitze darin unterzubringen. Weil aber eine winzige, drei Zentimeter lange, spaghettidünne Nudel sich mit auf dem Löffel befunden hatte, kriegte die Esserin plötzlich ganz erschrockene Augen und fing zu krächzen an, dass wir alle lachen mussten und sich ein schneller, belustigter Blickkontakt zu der keineswegs besorgten, sondern genauso amüsierten Mutter ergab.

Als weniger lustig empfanden wir es, als der Vater Anna etwas Schaum von seinem Bier auf die Nase tupfte, obwohl schon wieder zum Lachen reizte, wie sie nach einem verdutzten Augenblick mit ihren kurzen Ärmchen den Schaum auf die pausbäckige Umgebung verteilte. Umso rührender war die darauf folgende Szene, als die Mutter, vielleicht in einer Art Mitgefühl wegen der schwachen Resonanz auf das Schaumspiel, eine Hand auf die des Vaters legte und Anna daraufhin noch einen Schritt weiterging, indem sie erst die Hand des Vaters streichelte und dann, obwohl der Kinderstuhl ihr das nicht leicht machte, ihre kleine runde Wange an die große Hand schmiegte...

Noch auf dem Rückweg zum Auto, obwohl der bergauf führende Wiesenweg uns schnell kurzatmig werden ließ, drehte sich das Gespräch nur um Anna und um die Frage, was war das eigentlich, das uns an dem Kind so gerührt hatte, dass es ganz weich in mir aufgestiegen war und meine Frau ihre Brille abnehmen musste. War das wirklich Anna gewesen oder einfach nur das Kindliche an Anna? Hatte uns nicht vielleicht nur jenes spontane Vertrauen beschämt, mit dem kleine Kinder einem Fremden, der am Tisch der Eltern Platz nimmt, zulächeln?

Irgendwie, als Katzenfreund, hatte ich mich auch an ein kleines Kätzchen erinnert gefühlt, wenn sie noch diese runden Köpfe mit den rosa Bibbernasen haben, diese kurzen Ohren und jenen flachen kindlichen Glanz in den Augen. Während meine Frau noch in eine ganz andere Richtung gedacht hatte, ohne dass auch mir dies ganz abwegig erschienen wäre.

»Könnte das Kind nicht auf eine leichte, kaum als solche erkennbare Weise behindert gewesen sein?«

Bis wir auch den Gedanken wieder verwarfen. Obwohl dieses aus fernem kindlichem Unbewusstsein kommende Lächeln in diesem ahnungslosen kleinen "Mondgesicht" uns trotz einer Schar eigener Enkel beiderlei Geschlechts in noch nie erlebter Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit zu Herzen gegangen war; und obwohl die Mutter des Kindes nach Meinung meiner Frau (ich kam mir dabei etwas profan vor, aber Frauen sind da wohl realistischer) bereits jenseits der Vierzig gewesen sein dürfte, wo es - die Natur weiß warum - öfter zur Geburt von behinderten Kindern kommt...

So drehten und verglichen, prüften und korrigierten wir unsere Beobachtungen, Meinungen, Argumente, bis wir wieder die Höhe erreicht hatten, wo im Waldschatten noch der Schnee und daneben die Sonne auf dem Hang lag. Als wir im Auto sitzend schließlich das Thema verließen, waren wir der Antwort immer noch nicht näher gekommen. Da gaben wir es auf und beschlossen, uns über diese Begegnung mit Anna einfach nur zu freuen. Aber später dann, am Abend, vor dem Fernseher, als die Rede war von den weltbedrohenden Kampfstoffen des Irak und von den Frauen und Kindern, denen man in Algerien die Kehlen durchgeschnitten hatte, von Rattengift in schweizer Babynahrung und den Foltermethoden der argentinischen Junta, und als ich dann noch an die Massaker im ehemaligen Jugoslawien denken musste und an die Völkermorde in Kambodscha und Ruanda, an den Holocaust der Nazis an den Juden und, und, und... erst da ahnte ich, was uns so tief bewegt haben musste, dass wir nicht gewusst hatten, war das noch Glück oder schon Trauer: Anna war nicht von dieser Welt.

Tour triste

Die Tour fängt schon trist an. Von der S-Bahn weg läuft man über eine dröhnende Metallbrücke, die bei jedem Schichtwechsel unter zehntausend Füßen zittert. Und die Treppe an ihrem Ende liefert einen unweigerlich der Fabrik aus. Zwischen deren ziegelroter, fensterübersäter, drei Stockwerke hoher Fassadenmonotonie und dem Bahnkörper gibt es kilometerlang kein Entrinnen. Weder vor der blendenden Nachmittagssonne, noch vor dem auf einsame Fußgänger Jagd machenden Autoverkehr. Hat man die Fabrik endlich hinter sich, tauchen erste Baumkronen auf, verschwinden die Autos wie weggesaugt um eine 90-Grad-Kurve, frohlockt man zu früh. Sie tauchen eine Etage tiefer, wo eine Bundesstraße den Zubringerverkehr von der Fabrik her aufnimmt, nicht nur vollzählig, sondern doppelt und dreifach wieder auf. Sodass man dem schmalen Fußgängersteg dankbar ist, der einen, noch dazu in elegantem Schwung, über den Fahrzeugstrom hinwegführt.

Das andere "Ufer" ist sowohl Anfang einer neuen Gemeinde als auch graue Wiederholung des bekannten Baukastenspiels: links der Bäcker, rechts der Metzger, an der Ecke die Gastwirtschaft Zur Krone, die auch "Traube" oder "Zum Ochsen" heißen könnte. Vergleichsweise originell, gleich um die Ecke, der Segelfalterweg, doch in dieser Umgebung eher der stumme Schrei eines lebenslang Eingesperrten nach Farben, Licht, Lebensfreude. Der Vergleich lag nahe, besitzt die Gemeinde doch, wenn auch diskret an ihre Peripherie verlagert, eine dennoch ganz reale Landesvollzugsanstalt.

Mit der nach dem Passieren der Ortsmitte leicht ansteigenden Straße hebt sich die Stimmung ein wenig. Zumal die höchstens dreigeschossigen Mietshäuser mit ihren Tante-Emma-Läden da und dort - nur ein Solarstudio tanzt aus der Reihe - in ihrer schlichten, zeitüberdauernden Bürgerlichkeit anrühren. Erst recht berührt angenehm, als die Straße an ihrem höchsten Punkt als Wendeplatte endet, zum Wanderweg wird, der über eine überraschend sich öffnende Hochebene mit Wiesen und Obstbäumen dahin führt, wo sich ein lockender Laubwaldschwall vor den Horizont hebt. Jedoch, die hochwillkommene Animation klingt so schnell ab wie sie aufkam: Der Wald erweist sich so wenig als Wald wie das potemkinsche Dorf ein Dorf ist. Kaum hat der Fuß das knöcheltiefe Laub zum Rascheln gebracht, haben die Augen sich notgedrungen an die enttäuschende Dominanz von welkem Springkraut und trockenen Brennnesseln gewöhnt, drängt sich ein Dauergeräusch ins Bewusstsein, das zu vergessen man eben im Begriff war. Und da sieht man sie schon wieder hinter dem herbstlich gelichteten Gebüsch am Waldrand dahinhuschen: Autos, Lastkraftwagen, Motorräder, Omnibusse, alles, was Räder, Motoren, einen Auspuff hat... Sie fahren hier besonders schnell, weil die nächste Ampel weit und dieser Wald, den die Straße durchschneidet, ohne Leben ist. Entsprechend lange braucht man - die erste Etappe reicht bis zur dreckverkrusteten Mittelleitplanke, die zweite ist ein entschlossener Spurt über die nicht minder frequentierte Gegenfahrbahn -, bis man beide Rennstrecken überquert hat.

Eigentlich müsste man sich nach alldem, eingehüllt in eine feine Schweißaura, geläutert in den Straßenbahnsitz strecken, aber es gibt keine Läuterung. Man wird das irgendwann wieder tun. Was die Frage aufwirft: "Warum eigentlich? Warum tut man etwas, das man als Naturfreund doch nie und nimmer schön finden kann?" Es muss sich wohl um eine Art Polgar-Effekt handeln. Alfred Polgar lässt sein Loblied auf die kleine Stadt in dem Gedankengipfeln: Das Schönste an ihr ist, dass ich hier fremd bin, dass ich jederzeit weggehen kann. So ist’s, mit anderen Vorzeichen, auch mit dieser Tour. Sie macht einem den Wert von Freiheit und Unabhängigkeit so richtig bewusst. Egal, ob man dabei an die Fabrik denkt oder ans Auto, an die Krone oder die Vollzugsanstalt.