Jörg von Bargen
Im Schatten des Regenbogens
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1.
Die Gruppe teuer, aber konservativ gekleideter Jungmanager drängte in den Fahrstuhl. Sie unterhielten sich hektisch miteinander. Zum wiederholten Mal in diesem Monat war der Vorortzug verspätet. Trotzdem interessierte dies niemanden von der Eisenbahngesellschaft.
Jemand drückte ungeduldig den Knopf, obwohl er genau wusste, dass dies den Start nicht beschleunigen würde. Zumindest durfte er sich einreden, Aktivität entwickelt zu haben. Sie waren alle nervös. Unpünktlichkeit gehörte in ihrer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft keineswegs zu den sonderlich geschätzten Tugenden. Verständnis für ihre Situation brachte in der Chefetage niemand auf. Die waren nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, wohnten sehr viel näher bei ihrer Arbeitsstätte als die Nachwuchskräfte. Außerdem: Wer würde denen Probleme bereiten, erschienen sie zu spät in ihren Büros?
Die Türen wollten gerade schließen, als sich im letzten Moment zwei Männer hineinzwängten. Einer von ihnen drückte den Knopf für den dritten Stock. Endlich setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Die Nachzügler trugen bis zum Hals geschlossene Regenmäntel, die eigentlich nicht zu dem milden Herbsttag passen wollten. Die Mantelkragen hochgestellt, die Köpfe tief heruntergezogen, warteten sie mit gesenktem Blick auf ihre Etage. Doch es interessierte sich niemand für sie. Jedem zergingen die eigenen Probleme auf der Zunge. Als die Männer die Kabine verließen, schien es, als seien sie nie präsent gewesen. Im Gedächtnis haften blieben die kurze Unterbrechung und zwei Regenmäntel.
Sie wussten, die Angestellten der Sozietät, denen sie ihren Besuch abstatten wollten, arbeiteten bereits seit knapp einer Stunde. Mit Sicherheit konnten sie davon ausgehen, alle anzutreffen. Zufrieden registrierten sie, sich so kurz vor acht Uhr als Einzige auf diesem Flur zu bewegen. Der Bürotrakt zur Rechten wurde nach ihren Informationen zurzeit nicht genutzt, sondern als Reserve für den geplanten Ausbau der Sozietät vorbehalten. Also wandten sie sich nach links der gläsernen Doppeltür zu. In stolzen, goldenen Lettern prangten darauf die Namen Payton, van Noy und Partner, Anwaltsbüro. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Vorsorglich schauten sie sich um. Nach wie vor hielten sie sich allein auf dem Korridor auf. Sie drückten den Klingelknopf, ein leises Summen verriet, sie konnten eintreten. Im Empfang saß Ally Sheedy und begrüßte sie mit einem Lächeln, obgleich ihr Brummschädel nicht nach Freundlichkeit rief. Immer wenn sie benötigt wurden, lagen die Tabletten an den falschen Stellen. Hätte sie sich am vorigen Abend bloß nicht auf den Likör eingelassen. Alle nachträgliche Weisheit erreichte sie zu spät. So blieb ihr nichts weiter übrig, als stumm zu leiden. Dies sollten die letzten Gedanken in ihrem Leben sein. Einer der Männer holte unter seinem Mantel eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer hervor und schoss ohne Vorwarnung. Die Kugel traf sie in der Nähe des Herzens. Ihr Kopf fiel zurück. Sie sank über die rechte Lehne ihres Stuhls, ohne einen Ton von sich zu geben. Stetig verfärbte sich ihre Bluse rot. Den Schützen schien das Ergebnis seiner Tat nicht zu interessieren. Er war sich sicher, richtig getroffen zu haben, dafür schoss er zu gut.
Auf dem Flur kam ihnen William Cage, der Bürovorsteher, entgegen. Er hatte gerade sein Morgengeschäft verrichtet und formulierte in seinem Kopf bereits wieder die Passage eines Ehevertrages. Als zurückhaltender Trinker bereitete ihm der heutige Morgen keine nennenswerten Schwierigkeiten. Er nahm die beiden Männer im Vorbeigehen gewahr. Zwei Kugeln beendeten sein irdisches Dasein. Ohne miteinander ein Wort zu wechseln, wandten sich die Killer den Räumen der drei dort tätigen Anwälte zu, um ihr blutiges Geschäft zu vollenden. Nur wenige Augenblicke später konzentrierten sie sich auf die Computer in dem Bürotrakt. Wie beim Scheibenschießen in einem Vergnügungspark mussten die technischen Geräte daran glauben. Kaltblütig verrichteten die Männer ihren Auftrag. Ihr Mitgefühl galt weder den Menschen noch dem Material.
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Seit mehr als zwei Jahren trafen sich Simon Schonfield und Bobby Mahon auf ihren Streifengängen gewöhnlich gegen 8.00 Uhr vor dem Wohn- und Geschäftshaus in der Denver Street. Im Winter nutzten sie die Gelegenheit, sich einen Kaffee in dem Schnellrestaurant nebenan zu gönnen, im Sommer war es die Coke am Hotdog Stand. Im Frühjahr und im Herbst entschied die Tagesform des Wetters über das Getränk.
Schonfield sah man seine gute Laune schon mit weitem Abstand an. Es schien, die längst fällige Beförderung zum Sergeant ließ nicht mehr lange auf sich warten. Und allem Anschein nach wollte man ihn im Revier einsetzen. Endlich gehörten die abgelaufenen Absätze der Vergangenheit an. Vermissen würde er allerdings das morgendliche Gespräch mit seinem Kollegen Mahon, der mit ihm in vielen Belangen die gleichen Interessen teilte. Ihre gemeinsame Liebe gehörte insbesondere dem Baseball. Mahon, als alter New Yorker, ließ auf seine Yankees nichts kommen, während Schonfield sein Herz an die Chicago White Sox vergeben hatte. Je nach Tabellenstand ihrer Favoriten dominierte einer von ihnen die Diskussion.
Laura Gonzales hastete durch das Foyer, winkte dem Portier kurz zu und sprang in den Fahrstuhl, dessen Tür sich gerade zu schließen drohte. Wie so häufig in den letzten Wochen kam sie zu spät. William Cage, der Bürovorsteher, hatte sie bereits mehrfach verwarnt, da eigentlich von ihr erwartet wurde, dass die Geschäftsräume bis spätestens sieben Uhr gesäubert blinkten und blitzten. Früher, als sie und ihr Mann kinderlos waren und hier in der Nähe wohnten, funktionierte alles hervorragend. Jetzt, nachdem sie ihr Kind bekommen hatte, das momentan ein wenig kränkelte, wurde ihre Terminplanung laufend umgestoßen. Das neue Häuschen am Stadtrand passte hervorragend auf die Bedürfnisse der kleinen Familie, leider nicht zu ihrem Arbeitsplatz. Zum Glück brachte Ally Sheedy, die Vorzimmerdame, für ihre Situation jedes Verständnis der Welt auf und bildete ein vorzügliches Schutzschild gegen den Unmut der Anwälte und des Bürovorstehers, die sich ungern durch ihr Putzen bei der Arbeit stören ließen. Ally war die heimliche Chefin im Büro. Ohne sie herrschte das Chaos. Gegen sie lief nichts, mit ihr alles. Lesley Hunter, einer der Anwälte, verstand ihre Probleme noch am besten, da er selbst stolzer Vater eines zweijährigen Kindes war.
Im dritten Stock stürmte sie zur Bürotür und öffnete diese mit dem eigenen Schlüssel. Ihr Morgengruß blieb ihr im Halse stecken. Ally Sheedy lag verdreht in ihrem Stuhl, auf ihrer Brust erblickte sie einen sich langsam vergrößernden Blutfleck. Für den Bruchteil einer Sekunde stand sie wie erstarrt, nahm im Unterbewusstsein die Geräusche zerbrechenden Glases wahr. Ohne weiter nachzudenken, wandte sie sich schreiend ab und rannte zum Fahrstuhl. Da dieser sich bereits weiter nach oben bewegte, benutzte sie das Treppenhaus und verlor dennoch wenig Zeit. Verzweifelt schreiend lief sie auf Norman Foster, den Portier, zu, der ihr voller Unverständnis entgegentrat. Erst einige Stunden später realisierte sie, dass die schnelle Reaktion vermutlich ihr Leben rettete.
Als sich die beiden Polizisten vor dem Gebäude trafen, tönte ihnen Laura Gonzales’ hohe, hysterische Stimme entgegen. Sie beschlossen nachzuschauen und betraten das Foyer. Dort brachten sie erst nach mehreren vergeblichen Anläufen halbwegs sinnvolle Sätze aus der Frau heraus. Sie verloren keine Zeit, sondern informierten unverzüglich ihr Revier und erhielten Order, den gesamten Bereich frei von Menschen zu halten und vorerst nichts zu unternehmen. Mit gezogenen Waffen standen sie unschlüssig am Empfang und schauten sich vorsichtig um.
*
Zu dieser Zeit war Frank Payton von dem Bürogebäude keinen Kilometer mehr entfernt. Er und Paul Clemens durften sich an diesem Tag über einen vollen Terminkalender freuen. Da passte die auf Band gesprochene Bitte von Lesley Hunter, ihn schnellstens sprechen zu wollen, wie die Faust aufs Auge. Aber er kannte ihn gut genug und wusste, dass er ihn nicht mit irgendwelchem unbedeutendem Kleinkram aufhalten würde, selbst wenn dessen Stimme leicht angetrunken klang. Im Hintergrund war die Geräuschkulisse einer Bar zu vernehmen. Payton wusste, die kleine Gemeinschaft feierte am gestrigen Abend ihr erstes Jahr im neuen Büro.
Kurz nach acht betraten er und Clemens das Gebäude und trafen auf eine schreiende Frau und zwei unschlüssige Polizisten, die gerade darüber diskutierten, ob sie der Anweisung ihres Reviers, sich zurückzuhalten, folgen oder aktiv werden sollten. Jede Alternative erschien ihnen attraktiver, als bei der aufgewühlten Frau stehen zu bleiben. Sehnsüchtig erwarteten sie den Rettungswagen mit einem Arzt. Mahon erkannte Payton sofort und sprach ihn erleichtert an.
»Oh, Chief, äh, Mr. Payton, Sie schickt der Himmel. Wenn mich nicht alles täuscht, hat es im dritten Stock einen oder wahrscheinlich sogar mehrere Morde gegeben.«
Schnell gab er sein geringes Wissen weiter.
Payton nahm Clemens zur Seite.
»Wir sollten uns mal umsehen. Hol bitte unsere Waffen aus dem Auto. Vielleicht halten sich die Täter weiterhin im Haus auf.«
Die Polizisten wies er an, das Treppenhaus und die beiden Fahrstühle im Auge zu behalten. Danach befragte er den Portier.
»Haben Sie irgendwelche Fremden hier herein- oder herauskommen sehen?«
Der Mann schüttelte verneinend den Kopf.
»Zwischen sieben und acht bekomme ich relativ wenig mit. Darauf zu achten, wer kommt und wer geht, ist in dieser Zeit unmöglich zu schaffen. Dann wimmelt es hier nur so von Leuten. Jeder Zweite hat eine Frage, meist wollen sie wissen, ob ihre Post bereits da ist. Jetzt, wo es zunehmend ruhiger wird, entgeht mir natürlich kein Fremder.« Er stockte. »Aber warten Sie. Mir ist, als seien zwei Männer in Regenmänteln vor etwa zehn Minuten mit einer Gruppe Nachzügler aus der WP-Gesellschaft mit dem Fahrstuhl hochgefahren. So ganz sicher bin ich mir allerdings nicht. Zu dem Zeitpunkt hing ich am Telefon und fahndete gleichzeitig nach einer verloren gegangenen Zeitschrift.«
Clemens kam mit ihren Waffen zurück. Sie entschieden sich, das Treppenhaus zu benutzen. Payton kannte das Haus recht gut, da er es vor einigen Jahren erstanden hatte. Im Erdgeschoss gab es neben dem Empfang ausschließlich die Heizungsanlage, einige Versorgungsräume und eine kleine Kantine. Das Gebäude war nicht unterkellert. Im ersten Stock arbeitete eine Werbeagentur über die gesamte Etage, im zweiten eine Im- und Exportfirma und eine Softwareberatung. Der dritte Stock war für seine Anwaltskanzlei reserviert, die zurzeit etwa ein Drittel der Räume nutzte. Die vierte bis sechste Etage belegten Ableger mittlerer europäischer Unternehmen mit kleinen Repräsentanzen und das Büro einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Die weiteren fünf Geschosse wurden als Wohnungen genutzt. Hier stand er beim ehemaligen Eigentümer im Wort, die Appartements der Mieter nicht in gewerbliche Einheiten umzuwandeln. Dieser Bitte entsprach er gern.
In der Kanzlei hatte das Grauen die Herrschaft übernommen. Sie fanden die Sekretärin und den Bürovorsteher ebenso wie die Leichen der Anwälte in ihren Zimmern. Alle Computer waren zerschossen worden. Von den Tätern fehlte jede Spur. Geholfen werden konnte niemandem mehr. Das Blut der Leichen war noch nicht geronnen, die Menschen waren nicht lange tot. Ihre Körper strahlten weiterhin Wärme ab.
Wenige Minuten später traf Wes Haynes, Leiter der Mordkommission, ein und setzte die Spurensicherung in Bewegung. Die anderen Männer durchkämmten so weit wie möglich das gesamte Haus. Sie trafen die Mieter vieler Wohnungen nicht an, da sie ihrer Arbeit nachgingen oder Einkäufe erledigten. Die Aussagen der jungen Wirtschaftsprüfer blieben sehr ungenau. Abgesehen von den Regenmänteln und den weltbewegenden Aussagen zur Größe der Männer, angeboten wurde bis auf Zwergenwuchs die gesamte Bandbreite menschlicher Abmessungen, gab es keinerlei Hinweis auf Alter, Aussehen oder sonstige Merkmale. Payton verstand die jungen Männer. Sich am frühen Morgen für andere Menschen zu interessieren, wenn man selbst vom Schicksal gebeutelt wurde, war zu viel des Guten.
War es den Tätern gelungen, sich abzusetzen? Payton bat den herbeigerufenen Hausmeister, ihm eine Liste über alle Wohnungen des Hauses zu geben und studierte sie interessiert. Dann interviewte er die Polizisten darüber, welche Wohnungsmieter sie nicht angetroffen hatten. Der Portier wusste, wer in Urlaub war oder sich aus sonstigen Gründen zurzeit nicht in der Wohnung aufhielt.
»Paul, informiere bitte Curt, er möchte vorbeikommen und Sandwiches und Kaffee für uns mitbringen. Wir verlegen unsere Schreibtischarbeit ins Foyer und werden hier unser Lunch einnehmen. Ruf außerdem im Büro an und sag alle Termine ab.«
Seitlich zu den Fahrstühlen stand gegenüber dem Empfangstresen eine Sitzgarnitur, die sie mit Beschlag belegten. Am späten Vormittag, kurz nachdem die Polizei und der Amtsarzt das Haus verlassen hatten, verzehrten sie das von Curt Armstrong herbeigeschaffte Essen. Vorher veranlassten sie, unauffällig alle Büroetagen vorzeitig zu räumen und warteten weiter ab. Gegen zwölf setzte sich der Fahrstuhl aus dem neunten Stock in Bewegung. Ein älterer Herr begab sich wenig später zu dem Portier und wechselte einige Worte mit ihm. Payton stand auf und ging zum Counter. Gut vernehmbar sprach er auf den Mann hinter dem Tresen ein.
»Wir können leider nicht länger warten. Sollten unsere Gesprächspartner noch erscheinen, geben Sie ihnen bitte unsere Telefonnummer durch. Kommt, Leute, wir gehen.«
Er nickte dem Mann zu und begab sich mit Clemens und Armstrong zum Ausgang. Er hörte den Portier den von ihm vorgegebenen Text sagen.
»Die Büros haben alle aus Solidarität mit den Toten frühzeitig geschlossen.«
Anscheinend zufrieden mit der Antwort kehrte er zurück zum Fahrstuhl und fuhr hinauf. Payton verharrte mit seinen Leuten für einen kurzen Augenblick vor dem Gebäude.
»Ich glaube, es geht bald los. Hoffentlich hat sich der Scout bluffen lassen. Wir verteilen uns im Foyer. Curt bei der Sitzgruppe, Paul am Counter, ich vor den Fahrstühlen. Sagt dem Portier, dass er auf das Treppenhaus achten soll. Nehmt die Waffen in die Hand, verdeckt sie mit einer Zeitung oder euren Mänteln. Denkt daran durchzuladen.«
Kurz darauf hielt der Fahrstuhl wiederum im Foyer. Heraus kam der ältere Herr mit einer Frau, beide vermutlich im gleichen Alter um die 75 Jahre. Dahinter gingen zwei etwa vierzigjährige Männer jeweils mit einem Regenmantel über dem rechten Arm. Einer von ihnen erblickte Payton und versuchte, seine darunter verdeckte Waffe hochzureißen. Das Schicksal spielte gegen ihn. Der aufgeschraubte Schalldämpfer behinderte ihn in seiner Bewegung. Paytons Kugel traf ihn direkt in die Stirn. Sein Partner versuchte, auf die alten Leute anzulegen, geriet aber in Armstrongs Schusslinie, was seinem Allgemeinzustand ebenfalls abträglich war. Die Schussgeräusche hallten nach, zögerlich entwich der Rauch. Die beiden Killer lagen tot am Boden. Langsam kam Bewegung in das Ehepaar. Die Frau streichelte mit Tränen in den Augen das Gesicht ihres hemmungslos weinenden Mannes, der schwer zu seiner Ruhe fand.
Clemens winkte den Portier zu sich.
»Rufen Sie einen Krankenwagen und die Polizei. Die kann gleich einen Leichenwagen für zwei Personen ordern. Die Herren am Boden werden in diesem Leben keinen Arzt mehr benötigen, im Gegensatz zu den älteren Herrschaften.«
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