Anneliese Berkenkamp

Die alten Stühle

Die innere und die äußere Welt



DAS DENKMAL HINTER DER GROSSEN WAND

ODER DER GEWALTIGE HINTER DER MAUER

Es ist, als wenn wir vor einer großen Wand stehen, hinter der sich Gott befindet. Jeder hat sein kleines Fenster, durch das er ihn sehen kann. Viele halten ihr Fenster jedoch verschlossen. Andere sehen gemeinsam aus einem Fenster. Vielleicht hat auch jeder von seinem Fenster aus eine andere Perspektive - und dann streiten sie sich herum, wie Gott aussieht. Nun gibt es allerdings auch welche, die behaupten, dass das gar nicht Gott ist, was wir sehen, vielmehr eine Projektion unseres Bewusstseins. Darum sieht er so verschieden aus, weil jeder ihn aus einer anderen Perspektive sieht. Oder ist es ein Denkmal, das man vor langen, langen Zeiten erbaut hat; beten wir ein Denkmal an?

Dieses Denkmal ist freilich sehr alt, viel Staub lagert darauf, die Spatzen und Tauben benutzen es respektlos als Stützpunkt, und manchmal, im Winter, ist es völlig zugeschneit. Dann und wann kommt jemand mit einem gewaltigen Besen, um es zu putzen und putzt so radikal, dass dabei die Nase oder ein Stückchen vom Bart abbricht. Aber was kann das für ein Gott sein, dem ein Stückchen von der Nase oder vom Bart abbricht? Andere wiederum putzen ihn aus, legen ihm Brokatgewänder an, setzen ihm eine Krone auf. Und sie sind erbittert, wenn man sich nicht vor ihm niederwirft (als wenn er das nötig hätte!).

Im Allgemeinen gucken wir sehr selten durch das Fenster, durch das man Gott sieht - oder das, was wir für Gott halten. Und, wie schon gesagt, viele behaupten sogar, er wäre es gar nicht, vielleicht auch, dass es ihn überhaupt nicht gibt. Aber immer, wenn wir in Nöten sind, reißen wir das Fenster auf und schreien: Du da, hör mal, was soll das? Du bist an allem schuld! Wie kannst du das zulassen? Unseren ganzen Zorn, unsere ganze Wut posaunen wir aus dem Fenster - aber er rührt sich nicht, als wenn er’s nicht hört. Manche hingegen haben mehr die sanftere Art und sie bitten und betteln, dass er’s ändern soll, aber er scheint sie nicht zu bemerken. Oder hört er es doch? Wir sind bisher nicht dahintergekommen. Falls sich unsere Nöte dann doch ändern, sagen die einen: Er hat geholfen! Die andern aber: Es wäre sowieso besser geworden, da hätte ich mich gar nicht so anzustrengen brauchen.

Andere sagen: Wir müssen die Mauer abreißen! Wir müssen zu ihm hin, müssen uns mit ihm vereinigen, denn er ist unser Leben! Tatsächlich nehmen sie einen kleinen Hammer und hämmern und hämmern an der gewaltigen Mauer, bis sie ermüden. Sie beklagen sich, dass ihnen die andern nicht helfen. Die Mauer ist zu groß. Wieder andere springen einfach durch das Fenster und verschwinden dort, wo Gott ist oder das, was wir für ihn halten. Man hat nie mehr von ihnen gehört. Einige von ihnen sind allerdings zurückgekommen und sie sagen, es war großartig! Ihr müsst es auch versuchen! Aber niemand hört auf sie. Denn die Sache mit Gott hat die meisten sehr ermüdet. Sie sagen: Warum immer durch das Fenster gucken, bringen wir doch hier bei uns alles in Ordnung! So hat sich schließlich ein Zustand eingestellt, dass das Denkmal hinter der Mauer in Vergessenheit geraten ist. Unsere Fenster sind alle geschlossen, wir leben nur auf dieser Seite und was drüben ist, geht uns nichts an. Wir sind große Realisten. Aber manchmal ist die Luft bei uns so schlecht, dann sagen einige: Öffnet doch das Fenster, vielleicht ist die Luft auf der anderen Seite reiner! Manche öffnen dann das Fenster und stellen fest, dass dort ein uraltes, ehrwürdiges, auch mit Schutt bedecktes Denkmal steht, das sie neugierig macht. Sie sagen, wo kommt das her, wer hat das aufgebaut, wir möchten es gern ergründen! Manche schreiben nun Doktorarbeiten über dieses Denkmal. Sie betreiben Stilkunde, versuchen Alter und Herkunftszeit der Statue zu ergründen, ganze Bücher kommen dabei zu Stande. Andere sehen darin nichts als eine große verstaubte Figur, werfen mit Steinen danach oder schießen nach ihr mit Flitzbögen. Das Denkmal rührt sich nicht. Schließlich ist es aus Stein. Oder aus etwas anderem? Egal, es ist unbeweglich, starr, ein totes Gebilde.

Eines Tages ist die Statue ganz in sich zusammengestürzt, aber nicht von den Flitzbögen, das wäre ja lächerlich, nein, weil sie in der Substanz ganz hohl geworden war. Wissenschaftler untersuchen sie genau aus der Nähe, sie war ganz morbide geworden, die Substanz war löchrig wie von winzigen Würmern zerfressen. Da verkündet ein genialer Kopf: Das war nie Gott! Wir haben es uns nur so vorgestellt. Die Menge fragt: Aber was war es dann? Darauf weiß der geniale Kopf keine Antwort. Die Menge fragt weiter: Gibt es denn keinen Gott? Sie hat ein Bedürfnis nach Gott, ein durchaus begründetes, man kann sagen ein Urbedürfnis.

Die Leute gucken nicht mehr durch ihre kleinen Fenster, denn da sehen sie nur einen Trümmerhaufen und es macht sie traurig. Einige haben angefangen, etwas zu bauen. Wir bauen uns einen Gott, sagen sie. Direkt neben uns. Wir wollen nicht bloß durchs Fenster sehen, wir wollen ihn hier haben, mitten unter uns. Einen zum Anfassen. Aber gleich ist auch die Gegenpartei da und höhnt: Was kann das für ein Gott sein, den ihr euch baut? Auf einen solchen Gott können wir pfeifen! Und beinahe kommt es zum Handgemenge. Bis ein weiser Mann kopfschüttelnd, lächelnd sich wundert: Es hat schon so viel Kriege um Gott gegeben! Wollt ihr noch einen? Nein, den wollen sie nicht. Sie sind ein Stück in der Entwicklung vorangekommen.

Nun hätte ich gern einen positiven Schluss, denn diese Sache mit dem umgestürzten Denkmal ist eine heikle Geschichte, die mancher nicht gern zulassen wird. So mancher würde das Denkmal von hinten mit seinen eigenen Händen stützen. Aber warum etwas stützen, das umfallen will, selbst wenn es aus Stein und Eisen ist? Und habe ich gesagt, dass es keinen Gott gibt?

Wir blicken immer noch durch unsere kleinen Fenster und halten nach etwas Ausschau. Wie aber, wenn wir auf dem stehen, nach dem wir Ausschau halten, und es nicht merken? Vielleicht trägt er uns auf seinen Händen und schaut uns belustigt zu? Ich weiß nicht, ob er Hände hat, ob er sie überhaupt braucht. Das ist nur eine Sache der Sprache. Wie, wenn wir seine Luft atmeten und sein Atem durch uns hindurchginge, ohne dass wir es begreifen?

DER SEGNENDE CHRISTUS IM KRISTALL

Wir hatten uns gerade auf unsern Meditationssitzen niedergelassen, als Harri plötzlich hochfuhr.

»Hast du mir diesen Zeitungsausschnitt fortgenommen? Wo hast du ihn gelassen?«

Ich sah mich entsetzt nach ihm um. Eine dunkle Wolke senkte sich auf uns hernieder. Irgendein unvorhergesehenes Verhängnis - wer hätte das noch vor einer Minute geahnt?

»Welchen Zeitungsausschnitt?«, fragte ich betroffen. Um den Meditationssitz meines Mannes lagen eine ganze Menge verschiedenartiger Dinge, nach geheimen Gesetzen geordnet, in welchen nur er sich auskennt.

Das waren eine Reihe aufgeschlagener Bücher, Zettel mit Notizen oder inspirierte Zeichnungen, für die er - man denke - während seiner Meditation Gelegenheit gefunden hatte, sie auszuführen. Fotos von Gurus, Meistern und andern Persönlichkeiten, die uns in ihrer Ausdrucksweise viel mitteilten. Aber auch simple, ja, banale Gegenstände waren darunter, die aus besonderen Gründen für sein Bewusstsein unschätzbaren Wert besitzen.

Es wäre klug, in diese geheimnisvolle Welt nicht einzugreifen - was ich zumeist beachte. Nur von Zeit zu Zeit packt mich ein hausfraulicher Ordnungswahn.

Harri war irgendwohin unterwegs und ich näherte mich mit meinem Putzwahn zögernd der zurückgebliebenen Aura seiner spürbaren Gegenwart, die sich auch in seiner Abwesenheit kundtut. Man musste doch die Aschenhäufchen von verbrannten Räucherstäbchen, musste doch die kreisförmigen Spuren ehemals abgesetzter Teetassen endlich einmal beseitigen...

Könnte man den Berg der aufgeschlagenen Bücher, ohne dass es ihm später auffiel, nicht ein wenig reduzieren? Zumindest in die untersten Bücher warf er doch schon lange keinen Blick! Auf den oberen waren die Seiten vergilbt, ein Zeichen, dass er sie seit Langem nicht mehr umgewendet hatte! Ich wusste den Grund: Es ging ihm oft nur um einen einzigen Satz, warum ein Buch wochenlang in diesem Zustand liegen blieb. Dieser Satz ist inhaltsschwer. Er möchte, dass sein Blick immer wieder darauf fällt, möchte immer wieder an etwas erinnert werden.

Doch leider nahm ich diese Zeichen nicht immer ernst. Ich tolerierte nicht die für ihn notwendige Unveränderlichkeit dieser Situation. Vielleicht gebricht es mir an Respekt. Mein Mann würde es so nennen, aber ich beurteile die Lage nach andern Gesichtspunkten.

Man könnte es als einen längst notwendigen, ja, überfälligen Säuberungsprozess ansehen, zu dem ich mich als Weib offenbar auf Grund eines höheren Beschlusses des Himmels verpflichtet fühle, jedenfalls bilde ich mir das ein und bin nicht dazu zu bewegen, von dieser Überzeugung abzulassen, die mein Mann offenbar als quälend empfindet, jedenfalls als ein Vernichtungswerk seiner geheimen von mir nicht wahrzunehmenden Ordnung.

Ich halte mich für vorsichtig und rücksichtsvoll, indem ich den vorgefundenen Turmbau im Prinzip respektiere, also stehen lasse - bis auf diese kleinen untergründigen Einschränkungen, die ich für minimal und vertretbar halte.

Ich wurde leichtsinnig und fing vorsichtig an, den Turm abzubauen, oder auch auszuhöhlen, wobei ich die zuunterst liegenden Bücher entfernte. Allerdings bin ich aus Erfahrung klug geworden, räume diese Bücher nicht vollkommen fort. Ich lege auch Zeichen hinein, bevor ich sie zuschlage. Obwohl das kaum nötig ist, da sie sich an der bewussten Stelle von selbst aufschlagen. Vorsichtshalber legte ich sie mir in einem Karton in Reserve. Für den Fall, dass mein Mann unverhofft nach ihnen verlangte. Ich habe meine Erfahrungen.

Zurück zu der eingangs beschriebenen Situation.

»Welchen Zeitungsausschnitt?«, fragte ich ängstlich. »Kannst du ihn mir nicht beschreiben?«

Offenbar konnte er das nicht. Es ließ sich nicht leicht in Worte fassen. Es musste eine sehr subtile Angelegenheit sein.

Stattdessen wuchs in ihm der Ärger. Man denke, ein Buddhist und wütend! Und das vor der Meditation! Es ist unglaublich. Man hat all die Stunden bei buddhistischen Vorträgen umsonst verbracht.

»Es ist respektlos! Es ist unverschämt!«, schnaubte Harri.

»Aber nun sage mir doch wenigstens, um was es sich handelt!«, jammerte ich. »Ich habe nichts fortgeworfen!«, suchte ich ihn zu beruhigen, zu beschwören. »Ich habe vorn in unserem Schrank eine Schachtel, da werfe ich alles hinein, was mir beim Aufräumen in die Finger fällt.«

»Es hat dir nichts in die Finger zu fallen«, sagte Harri. »Mein Zimmer ist meine Angelegenheit und du hast kein Recht, hier etwas herauszutragen, sonst muss ich mein Zimmer abschließen. Oh Gott, wo ist es bloß geblieben!«

Was konnte es nur sein? Mein Mann schien keine kritische Sicht davon zu haben, wie es bei ihm aussah, obwohl er sich doch mitunter selber über seine Unordnung beklagte. Hatte ich denn aus eigennützigen Zwecken etwas entfernt? Schließlich wollte ich doch nichts weiter, als ihm größeres Behagen verschaffen, unmerklich, heimlich, gewissermaßen mit Engelshänden. Und nun dieses Drama!

»Nun sage mir doch endlich, was es war«, flehte ich. »Es geht nichts bei uns verloren!«

Aber mein Mann misstraute mir. Er schien von dem Verlust wie vernichtet. Es musste ein Juwel sein, das er da heimlich hortete! Ein Diamant! Wer ahnte das? Das kann man nicht ahnen!

»Es hat hier gelegen!«, schnaubte er. Er war richtig rot im Gesicht. Ich fürchtete das Schlimmste. Er zeigte auf eine Stelle vor dem Bild des Gurus, der aus überirdischer Seligkeit auf uns herunterlächelt. »Hier!«, sagte Harri. Aber da lagen nur einige zerbrochene Räucherstäbchen.

»Soll ich die Schachtel holen? Wollen wir sie gemeinsam durchsehen?«, schlug ich vor. Aber Harri hörte nicht einmal zu. Er kochte.

»Hier lag es. Da lag es!«

Es begann langsam in mir zu dämmern, was es war. So ein ganz unbedeutender Zeitungsausschnitt. Ein kleines Foto. Die Abbildung eines Gegenstandes. Erst hatte er es mit einem Reißnagel an den Schrank geheftet, später lag es dort, ja richtig, vor dem Bild des Gurus. Ich fühlte eine gewisse Erleichterung, denn mein Gewissen war rein.

»Ich hab’s nicht weggenommen«, sagte ich. »Vielleicht hat es der Wind weggeweht!«

Wir krochen auf den Knien im Zimmer herum und suchten.

»So weit kann es der Wind gar nicht wegtragen«, sagte Harri, weiterhin misstrauisch gegen mich. Ich schwor insgeheim viele Eide, dass ich ihm seine Sachen in Zukunft unangetastet lasse. Und dann, endlich, fand ich ein kleines Stückchen Papier unter seiner Bettcouch. Es konnte nur der Wind dorthin getrieben haben.

»Ist es das?«

»Ja!« Harri atmete auf. Beide atmeten wir auf. Beide waren wir glücklich. Unser häuslicher Frieden war gerettet.

»Siehst du etwas darin?«, fragte mein Mann und ließ mich das verlorene und wieder gefundene Gut betrachten.

»Nein! Was ist das überhaupt? Es sieht aus wie ein Foto von einer Kristallschale.«

»Ja, es ist eine Kristallschale aus einer Reklameseite von Neckermann - eine Kristallschale zu zweifünfzig...«

»Dann wird’s wohl nur gewöhnliches Glas sein, auf Kristall getrimmt, wenn nicht gar Kunststoff...«, sagte ich. »Aber immerhin, man könnte es für Kristall halten...«

»Siehst du nicht, dass das ein Kreuz ist?«

»Ja...«

»Und dass das wie ein segnender Christus aussieht?«

»Ja - natürlich!«

Der Kristallschliff (oder vielmehr der künstlich erzielte Eindruck eines Kristallschliffs, denn in Wahrheit ist es gepresster Kunststoff) erzeugt ein Spiel von Linien und dunklen Flächen, durch den Einfall des Lichtes hervorgerufen. Die fast runde Schale hat in der Mitte eine Aufteilung, die an ein Kreuz erinnert. Dabei verkürzt sich eine Linie durch den Lichtreflex und die Wölbung der Schale, sodass tatsächlich der Eindruck eines segnenden Christus entsteht, der seine Arme auseinander breitet. Es erinnert auch an die riesige Statue von Rio de Janeiro, die ich nur von Fotos kenne. Das Gewand scheint sich unten in schwingenden Falten auszubreiten. Man könnte an das Gewand eines tanzenden Derwischs denken. Christus als tanzender Derwisch. Um das Kreuz schließt sich ein Kreis, hervorgerufen durch den inneren Rand der Schale wie eine kosmische Umrandung. Um diesen Kreis herum im äußeren Rand der Schale ein Kranz von Strahlen wie eine Betonung von Heiligkeit.

Was doch die irreführenden Reflexe eines im Spiel der Licht- und Dunkelheiten befindlichen Dinges in unserem Bewusstsein erzeugen können! Es ist nur eine Illusion. Millionen Menschen mögen dieses Foto flüchtig gesehen haben, Hausfrauen, die das abgebildete Ding abschätzten, ob sein Besitz wünschenswert sei, ja auch ich habe es irgendwann gesehen, ohne es recht zur Kenntnis zu nehmen. Und nun kommt mein Mann mit seinen Dichter-Augen und einer gewissen Naivität, gesteuert durch sein religiöses Bewusstsein, der in Linien und Formen einen Christus erkennt.

Aber was ist es eigentlich, das sieht? Sind es unsere Augen? Es ist immer nur unser Bewusstsein!

Harri entdeckt in einem simplen Reklamebild einen Christus. Ich könnte ihn nun mit der Überheblichkeit meines praktischen, rechtschaffenen Hausfrauengeistes nachsichtig wie ein spielendes Kind betrachten. Oder?

Aber wenn er ein spielendes Kind mit einer Christusvision ist, bin ich ein Kind des Alltags, ein Kind der Profanie... Ist das besser?

Harri lässt aus Neckermann-Reklamebildern segnende Christusse entstehen, das ist wie bei der Müllerstochter, die aus Stroh Gold spinnen sollte, was sicher nicht weniger bedeutet.

Zu meiner Überraschung zeigte mir nun Harri eine Reihe von Zeichnungen, die er daraus entfaltet hatte.

»Man könnte einen Linolschnitt für Ostern daraus entstehen lassen!«, sagte er mit einer gewissen Befriedigung. Aller Ärger war verraucht.

Ich nicke demütig.

Man ahnte es nicht: In dem Zimmer meines Mannes wachsen aus der Unordnung, diesem Wust kleiner Zettel und Gegenstände, mystische Geheimnisse, ein Himmel voller Engel und Propheten. Irgendwie fühlte ich mich beschämt.

EIN GLAS ORANGENSAFT

Das Auge Gottes blickte in ein Trinkglas, das halb gefüllt mit Orangensaft auf einem Küchentisch stehen geblieben war. Das Auge Gottes sah darin eine winzige Schar von Eintagsfliegen, die, von ihrer Naschsucht verführt, in den Orangensaft hineingeraten waren und dort ohne die Hoffnung, wieder herauszukommen, zappelten. Einige befanden sich noch an dem glatten Glas des Gefäßes und versuchten vergeblich, hier Fuß zu fassen, aber sie glitten immer wieder ab, wie Menschen bei Glatteis. Andere schwammen schon abgetrieben im Orangensaft, sie resignierten oder anders gesagt, sie konnten einfach nicht. Ihre Kraft, sich zu befreien, war erlahmt. Manche wiederum mochten schon längere Zeit im Orangensaft wie Treibgut schwimmen. Sie sahen gedunsen aus, mehr als sie wünschten, voll gesogen mit Orangensaft, vermutlich waren sie schon tot.

Ach, ihr Armen, sagte Gott, während sein Auge weiter blickte. Sein Auge verfolgte die Bewegungen der winzigen Füßchen und Flügel der Insekten. Wie verzweifelt ihr kämpft, wie ihr euch quält!

Da erhob sich neben Gottes Stimme die Stimme des Teufels, eine Stimme voller Befriedigung und Vernunft: Gottlob, sagte der Teufel, er genierte sich nicht, den Namen Gottes zu gebrauchen, Gottlob sind wir dieses Gesindel los! Dieses Glas Orangensaft hat sich doch als eine fabelhafte Falle erwiesen! Man sollte immer solche Gläser mit süßem, verlockendem Saft aufstellen, da können die kleinen Näscher nicht widerstehen, da torkeln sie hinein, da sind wir die Störenfriede los!

Aber nun sieh doch, wie sie kämpfen, habe doch Mitleid mit ihnen, die noch voller Hoffnung und doch schon verzweifelt sind, sagte Gottes Stimme, und wie sie immer noch nicht aufgeben können, solange noch Kraft in ihnen ist, und wie sie es selber bemerken müssen, wie die Kraft schwindet und der Tod naht...

Der Tod im süßen Saft, ergänzte der Teufel genüsslich, geschieht ihnen recht, warum waren sie so dumm, warum konnten sie nicht widerstehen? Sie sollten daraus lernen, die Leckerfritzen und Näscher!

Aber wie können sie ihre Einsicht jetzt noch benützen, sagte die mitleidige Stimme Gottes, jetzt, den Untergang vor Augen... Willst du sie nicht retten, damit sie...

Keineswegs will ich das, widersprach der Teufel triumphierend, wo ich doch froh bin, die Störenfriede los zu sein! Du kannst ja, wenn du willst, Gott, mit deiner gewaltigen Wundermacht, und dann werde ich mich mit allem Respekt nicht einmischen!

Ich könnte schon, sagte Gott nachdenklich, aber ich möchte meine Wundermacht nicht zu oft gebrauchen, weil das einem Missbrauchen gleich kommt, außerdem beten sie nicht... Nur der schmelzende Klang eines Gebetes macht mich weich. Doch ohne diesen schmelzenden Klang muss auch ich mich an die Gesetze halten und dem Schicksal freien Lauf lassen! Ich bin zu heilig, als dass ich mich in dieses kosmische Spiel ohne besonderen Anlass einmischen kann!

Na so was, rief der Teufel erschrocken aus, während er das Glas heftig schüttelte, beinahe wäre es einer dieser kleinen Kreaturen geglückt, auf dem glatten Rand Fuß zu fassen, aber nun hat er seinen Halt verloren! Und teuflisch behaglich fügte er ein &Mac221;Gott sei Dank!&Mac220; hinzu. Wie er da wieder zappelt und schwimmt, hahaha, und der Teufel ließ ein gewaltiges Lachen ertönen, das zwar hässlich, aber doch voller Urkraft war.

Das war grausam, protestierte Gott! Das war unnötig, diesen einen, der infolge seiner Tapferkeit glücklicherweise festen Boden unter seinen zitternden Beinchen gefunden hat, wieder in sein Verderben hineinzuschütteln! Warum konntest du ihm nicht die wohlverdiente Rettung gönnen? Außerdem verbiete ich dir ein für alle Mal, in diesem Zusammenhang meinen Namen zu nennen.

Ich bin eben grausam, erwiderte der Teufel selbstzufrieden, aber wo kämen wir mit diesem Kosmos hin, wenn nicht auch meine Gesetze eingehalten würden? Eine unerträgliche Überbevölkerung! Ist es nicht überhaupt eine Erleichterung für diese armseligen Kreaturen, dass ich dezimiere, dass ich Ordnung schaffe? Sodass jeder wieder genügend Lebensraum hat? Du mit deiner grenzenlosen Güte, deinem Gleichmut, was eigentlich Gleichgültigkeit ist, würdest in deinem selbst geschaffenen Kosmos einen Zustand grenzenloser Qual aller deiner Geschöpfe hervorrufen, weil sie sich nebeneinander nicht mehr bewegen könnten, sich gegenseitig auf die Füße treten und einander die Nahrung wegschnappen würden, was wiederum zu Rivalität und Hass verleitet - wo ist denn da die Logik deines Handelns, wo ist das Glück deiner Schöpfung?

Wenn ich aber mit harter Hand aufräume, ohne diese behindernde Sucht des Reflektierens, tritt wieder Ordnung ein und alles kann aufatmen! Eigentlich hast du mich sehr nötig, wenn mir auch immer die Rolle des Bösen zugeschoben wird, aber während du dich feiern lässt, muss ich die ganze Verachtung tragen. Nun gut, ich bin es gewöhnt.

Hallo, rief er, da ist ja wieder einer, der sich vorsichtig nähert, er befindet sich schon auf der Innenseite des Glases, siehst du? Er vernimmt den Duft des süßen Obstsaftes, aber traut dem verheißenen Glück nicht, er verharrt zögernd, einerseits betört und angezogen, andererseits voller dunkler Ahnungen - da wollen wir doch mal nachhelfen! Und der Teufel schüttelte das Glas, dass die kleinen Leichen beinahe hochgeschlagen wurden. Der winzige Neuhinzukömmling wurde von einer hochschwappenden Welle des Saftes hineingeworfen und zappelte nun verzweifelt in dem allzu reichlichen süßen Nass.

Das war nicht recht, protestierte Gott. Da hast du dich ganz unbefugt in ein Schicksal eingemischt! Ich protestiere!

Ach... ach..., erwiderte der Böse in gelassenem Zynismus, ich habe nur beschleunigt, was auf langsamere Weise doch geschehen wäre.

Aber du hast vorgegriffen! Er hatte immer noch das Recht der eigenen Entscheidung!

Im Grunde hatte er sich schon entschieden. Er war schon durch und durch verdorben, widersprach Mephisto. Und was heißt schon Zeit? Zeit ist doch nichts anderes als eine von dir geschaffene Illusion. Du, der du über der Zeit stehst, siehst das später Kommende. Für dich ist das alles sowieso nur ein Spiel. Im Grunde bist du grausam, während ich die Leiden verkürze, indem ich vorgreife. Was überhaupt unterscheidet uns voneinander? Ich bin dein Bruder, dein Kompagnon!

Du hast dich aber strikt an deine Rolle zu halten, brummte Gott verstimmt. Du verlässt immer meine Anweisung, erlaubst dir Zugriffe!

Weil mich dein Hinauszögern des Unausweichlichen manchmal ungeduldig macht, sagte Mephisto verdrossen. Soll ich immer nur daneben stehen und tatenlos zusehen? Wie langweilig!

Das ist kein Hinauszögern, das ist eine Basis für Lernprozesse. Meine Geschöpfe sollen die Chance haben, zu lernen. Zwar wird keins einmal so weise sein wie ich, aber ein bisschen sollen sie doch alle von meiner Weisheit aufgeschnappt haben, damit ich mich in ihnen spiegeln kann - was mir so wohlgefällt.

Na ja, meinte der Teufel. Und wozu das alles? Er gähnte.

Weil ich einen intelligenten Kosmos geschaffen habe, und diese Intelligenz muss gesteigert werden, immer wieder gesteigert, bis sich alles in meiner großen Weisheit auflöst!

Na schön, sagte der Teufel, manche sind dann eben früher dran, an deiner Brust zu ruhen. Was regt dich meine Beschleunigung auf?

Sie finden keine Basis, um es wirklich zu begreifen! Verstehe doch!

Das heißt, du meinst, sie sollen gründlicher leiden, meinte der Teufel arglistig, damit sie deine hohe Weisheit annähernd begreifen? Im Grunde hast du die Welt doch als eine Folterkammer für höhere Zwecke geschaffen!

Es ist eine Schule, widersprach Gott.

In deinen Augen, sagte der Teufel, aber offenbar habe ich mehr Mitleid als du, dass ich diese Lernprozesse verkürze!

Du in deiner niedrigen Natur, sagte Gott, wirst nie das Beglückende einer tiefen Einsicht nachvollziehen können, das ein Geschöpf in all seinem Schmerz empfindet, wenn es sich mir nähert...

Ich verzichte darauf! Der Teufel blickte wieder in das Glas Orangensaft, da sind ja schon drei... vier neue Brüder drin! Wie sie zappeln! Sie sind jetzt alle dabei, zu tiefen Erkenntnissen über die trügerische Natur des Lebens zu gelangen, während die bereits Bekehrten tot auf der Oberfläche des Seins schwimmen, als erschreckendes Beispiel für die andern, die noch hoffen.