Elmar Dod

Nachtfahrt

Kapitel 1

EIN AUFTRAG

Endlich, ein richtiger Auftrag, dachte Bettina, eine Tat im Dunkeln ohne Täter und Motiv, ein alter Körper von sinnlos vielen Stichen durchbohrt, als habe der Mörder etwas Unauffindbares suchen wollen.

Nach Schonauers Telefonanruf war sie aus ihrem Wohnviertel stadteinwärts in die Allee gefahren. Die Blätter hatten sich im Herbst dieses Jahres wieder gelb und rot und braun gefärbt in alle Schattierungen, wurden, wenn gefallen, von Erwachsenen zusammengerecht und in Müllsäcke gestopft oder gesammelt und gepresst von Kindern. Mit Geheul sprangen dort drüben ein paar Jungen in einen Blätterhaufen, durch einen anderen fuhren Autos hindurch. Doch dies alles war nicht wichtig, wenn man nur einen Auftrag hatte, der alles andere am Rande liegen ließ, der jemanden wie Bettina schnurgerade an den Bäumen der Allee vorbeiführte, deren Blätter in ihren bunten Farben das Licht aufbewahrten, das am wolkenverhangenen Himmel verschwunden war: leuchtende Farbkleckse inmitten von Grau und dem Matsch der Straße. Hier und dort hatte der Wind Blätterhaufen und Papierfetzen zusammengetrieben, die von den Reifen der Autos noch unberührt waren: Knäuel wie Menschenleiber, wenn man sie sehen wollte, windige Symbole, dachte Bettina, die gleich auseinander getrieben werden...

Sie hatte infolge eines Mordes, der an diesem Nachmittag geschehen war, einen Boris Malik aufzuspüren, heute Abend, in einem Schachcafé im Bahnhofsviertel, wo Malik, wie Bettina von ihrem Auftraggeber mitgeteilt worden war, sich seit etwa 15.00 Uhr aufhielt. Malik hatte um 14.07 Uhr das Haus verlassen, in dem Prof. Dr. Kolb, Aufsichtsratsvorsitzender eines internationalen pharmazeutischen Konzerns, wenig später ermordet aufgefunden worden war. Bettina hatte Schonauers sonst kühler Stimme die Erregung angemerkt, mit der er sie auf ihren ersten größeren Auftrag für seine Organisation vorbereitete: Prof. Kolb war mit einem großen Transchiermesser am offenen Kamin seines Wohnzimmers erstochen worden, elf Stiche hatte man gezählt, die blutverschmierte Tatwaffe neben dem Opfer gefunden, dem die Kehle noch zu durchschneiden unnötig gewesen war.

Das Bild des Ermordeten hatte sich zuerst Janine dargeboten, der 28-jährigen attraktiven Sekretärin eines einflussreichen Frankfurter Verlegers, die sich für 18.00 Uhr mit dem 75-jährigen international renommierten Wissenschaftler in seiner Villa im Vorort Bergen-Enkheim verabredet hatte und sogar den Hausschlüssel besaß - was Anlass für zahlreiche Spekulationen in den Medien geben musste. Unter Schockeinwirkung hatte Janine ihren grauenhaften Fund verlassen, die Nachbarschaft informiert, diese die Polizei. Einen Mord, trivial wie grausig also, galt es aufzuklären, der detaillierte Bericht über ihn war nur den Abendzeitungen zuzumuten. Nach den wichtigsten Fakten hatte sich Schonauer deshalb der Analyse zugewandt: Eine vorläufige Obduktion hat 14.15 Uhr als vermutliche Tatzeit ergeben. Dieser Boris Malik ist höchst verdächtig und kann vielleicht durch Indizienbeweis als Täter überführt werden. Klar ersichtlich ist jedoch, dass wir ihm jetzt nichts nachweisen können. Schonauer hatte dann auf Bettinas Auftrag hingelenkt: Eine Festnahme würde Malik oder andere warnen. Nützlicher ist es, ihn als wertvolle Informationsquelle im Gefühl der Sicherheit zu belassen. Wenn wir jeden seiner Schritte verfolgen, kommt vielleicht das ans Licht, was den Mordfall Kolb und unendlich mehr aufdecken hilft. Gefühle waren in Schonauers Stimme gerutscht, als ob Heiserkeit aufkäme, Gelegenheit für Bettina, Fragen zur Sache zu stellen: Wer hat Malik in Prof. Kolbs Frankfurter Villa noch vor dem Mord gehen sehen? Und jetzt am Lenkrad sah Bettina Schonauers Lächeln vor sich, einen zur Gerade gedehnten Lippenschlitz: Nun, auch Sie können wissen, dass wir Prof. Kolb durch unseren Geheimdienst seit Langem überwachten. Es war eine Prof. Kolb weder ganz unbekannte noch unwillkommene Überwachung. Unser Mann, übrigens ein hervorragender Mitarbeiter, ist Malik nach dessen Besuch bei Prof. Kolb gefolgt und hat uns sogleich mitgeteilt, noch vor unserer Kenntnis des Mordes, dass sich Malik in genanntem Café aufhält, das er gewohnheitsmäßig besucht. Schonauer hatte auch Malik lange vor dem Mordfall beschatten lassen. Sie sollen Verbindungsmann, -frau sein, versuchte Schonauer zu witzeln, zusätzlich zu der Bewachung, die wir natürlich fortsetzen, sodass sich eine optimale Beschattung ergeben wird...

Der Alleenring führte in einer langen sanften Linkskrümmung dem Hauptbahnhof zu und entfernte sich mit jeder Autolänge von dem Wohnviertel rechts, wo sie früher mit einem ihr nun fremd gewordenen Mann gewohnt hatte. Und um die hier entstehende Gedankenkette abzuschneiden, dachte sie gerne an das Ende des Telefonates, an dem ihr Auftrag klar formuliert wurde: Die Gelegenheit, Malik einzufangen, könnte noch günstig sein, den Charakter der Zufallsbegegnung an sich haben. Der Rest war bizarr, doch folgerichtig, ein einfallsreicher Zug: Sie sollte mit Malik Schach spielen, denn man suchte seine Partner für gewöhnlich erst im Lokal, sollte eine Beziehung zu ihm knüpfen. Spielen Sie so, dass Sie für Malik der ideale Gegner sind, stark und herausfordernd, eine Verlockung geradezu, Selbstbestätigung und Spaß zugleich, eine Hürde, deren Überwindung - wie nur wir wissen - für ihn ein sicherer Genuss sein, ihm aber als Ergebnis großer Anstrengung, großen Könnens und des Glückes dieses Abends erscheinen wird. Schonauer war schließlich auf seine Weise persönlich geworden: Ich möchte nicht Ihr Privatleben am Samstagnachmittag stören. Aber Sie dürfen uns jetzt nicht im Stich lassen, Sie werden gebraucht. Sie sind eine starke Spielerin, liebe Bettina, verglichen selbst mit all unseren männlichen Mitarbeitern, Sie spielen regelmäßig in der A-Mannschaft des angesehensten Clubs dieser Stadt.

Mein Privatleben wird auch überwacht, ging es Bettina durch den Kopf. Sie war am Ende der Kurve in das Bahnhofsgebiet hineingefahren.

An Ihr psychologisches Geschick, das Sie mit Ihrem außerordentlichen Verstand verbinden, brauche ich nicht zu appellieren. Von Ihrer weiblichen Attraktivität müssen wir diesmal leider absehen, da dieser Malik nachweislich an so etwas nicht interessiert, weil homosexuell ist. Schonauer war widerlich.

Sie suchte einen Parkplatz.

Dieser Auftrag ist, verglichen mit Ihren bisherigen, von höchster, sogar politischer Wichtigkeit, was sich in der Spesenkategorie niederschlagen wird. Obwohl Sie auch mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass Malik nicht der Täter ist und von dem Mord wirklich nichts weiß, einfach Schachspielen gegangen ist. Und auch nichts gehört oder gelesen hat, denn unsere emsigen Abendzeitungen sind erst dabei, ihre Schlagzeilen zu fabrizieren. Kurzum, dosieren Sie Ihre Spielstärke einfach so, dass Sie für Malik die ideale Partnerin sind.

Verstanden, hatte Bettina das Gespräch beendet, das ihr immer schwerer fiel, ich fahre jetzt besser los. Auf Wiederhören!

Es gab einen Parkplatz auf der gegenüberliegenden Seite. Schonauer konnte sie nun für den Abend vergessen. Dieser Auftrag jedenfalls war eine Arbeit, die wichtig war und ihr gefiel: Sie würde gern mit diesem Malik spielen, so tun, als ob sie spielte, ein Schachspiel mit ihm spielen.

Als Bettina in der Tür der Geruch von Kaffee, Bier und gedrängten Leibern entgegenschlug, glitt ihr Blick die Reihen der gebeugten Köpfe entlang, die auf die Bretter geheftet waren. Über jeder Tischreihe liefen zwei Neonröhren parallel an der Decke, sodass jeder Spieler eine über sich vermuten konnte und nur von der seines Gegenübers geblendet wurde, falls er, was unwahrscheinlich schien, den Kopf vom Brett weg in die Höhe richtete. Bloß nicht unter all den Männern auffallen, am besten auf die Kombinationen von Figuren auf den Brettern starren... Weshalb auch miteinander sprechen, wenn sich alles in der Klarheit von Sieg oder Niederlage entscheidet! Spiegelungen, die mich nicht ablenken dürfen, wenn ich gewinnen will: Hier auf den schwarz-weißen Quadraten schießen die Gedanken ins Fadenkreuz der Logik, erlöst von ihnen, kannst du sie betrachten: Hier wird in Ruhe gekämpft im Glanz der Rüstungen und Waffen. Hier stirbt ein Bauer auf F6, dort kämpfen zwei Türme vor hoher Stirn mit zierlichen Schweißperlen. Ich denke an: Sarajevo, Solferino und Stalingrad... die ruhelosen Schlachtfelder des Buchstabens S ... Hier ist alles gedankengerade - hier wird alles Geschlagene zu neuem Spiel wieder aufgestellt, und die Gräber bleiben geöffnet!

»Schach!«

Boris Malik hatte dies Wort hervorgestoßen, sein erstes, seit Bettina sich wie zufällig in seine Nähe bewegt hatte. Magnetisch wirkte dies Wort, holte die Irrläufer ihrer Gedanken in einen enger werdenden Kreis zurück, der ihnen Gegenzüge, Kombinationen aufgab. Das Gesicht ihres Gegners an diesem Abend hatte sie schon identifiziert mit dem Faxfoto während Schonauers Anruf: breit, gutmütig, mit flinken Augen, die Brauen zusammengewachsen. Dort also sitzt Boris Malik, spielt das Denken, übt was er brauchen wird auf seiner klugen Flucht. Oder er spielt ganz schuldlos und weiß nichts von dem Blut, das nach ihm floss. Bettinas und Maliks Blicke treffen sich auf dem Brett, wo gerade eine Dame in Raffinesse sich aufopfert. Der Blick von Maliks Gegner fährt über die Quadrate, auf denen alles stehen bleibt, weil in Gedanken schon entschieden. Der Gegenüber verabschiedet sich.

»Möchten Sie spielen?«, fragt Bettina, als der Körper sich aus dem Stuhl hebt, sie ersetzt ihn schon, während Malik nickt, flüchtig aufblickend. Ein Kaffee für Bettina, eine neue Zigarette für Malik, ein Zurechtrücken der Figuren; Malik streicht sich übers Haar, wirft Bettina nun einen Blick zu, den sie erwidert, sich über die Stirn fahrend: Die Waffen sind bereit.

Nach den mechanischen Zügen der Eröffnung beginnen die Verzögerungen der Gedanken: das Ausspähen von Schwächen, das Zusammenballen der Kraft, das Herumschleichen zum Sprung geduckter Körper. Alle Energien verschwinden in den Waffen, Zeit verfliegt, die Gedanken sind angeschirrt - bis Bettina zu sich zurückkehrt und pausiert, die eigene Angestrengtheit betrachtend, die als Schild nach außen nicht mehr notwendig ist: In Gedanken ist alles für sie entschieden, die Spielstärke dieses Boris Malik hochgerechnet. Er braucht jetzt eine Chance, die er mit vollem Krafteinsatz nutzen kann, eine die nicht meinem Versehen, sondern einer vermuteten wirklichen Schwäche meines Denkens entstammt, eine die ihm das Gefühl gibt, immer stärker sein zu können als ich. Bettina bietet Malik ein Schachmatt an, versteckt hinter dem Opfer zweier Figuren. Ich werde noch ein oder zwei Minuten haben, bevor er seine Chance nutzt oder verpasst, eine Kampfpause, um diesen Funken aus seiner Zigarette zu beobachten, der die Felder durchkreuzt, niemanden anbrennt, dann verglimmen wird in Asche, vielleicht auf einem der Randfelder, H7 oder H8, wo er liegen bleibt oder zur Ruhe kommt, dieser Schmerzfunke eines abirrenden Gedankens...

Malik brütet, seine flinken Augen werden langsamer, auch sie irren vom Brett ab, umkreisen es, richten sich auf Bettina, die neonhell erwacht und denkt, alles ist verloren.

»Entschuldigen Sie, ich bin müde, lassen wir die Partie remis?«

»Einverstanden, Sie haben wohl schon lange hier gespielt?«

»Ja, ein paar Stunden. Danke, auf Wiedersehen!«

»Ja, ich sollte auch gehen«, kontert Bettina mit Blick zur Uhr, schiebt sich hinter Malik her, drängt an Hereinkommenden vorbei und tritt neben ihn nach draußen in die Samstagnacht.

Wollen wir noch ein Bier trinken?, hätte sie als Mann kumpelhaft fragen können. Und Boris wird nicht fragen, soll ja anders, an Frauen nicht interessiert sein. Bettina gerät in Panik, sieht ihren Auftrag schon davonlaufen.

»Wo kann man hier gut zu Abend essen?«, hört sie sich fragen, das ist die Chance, Sieg oder Niederlage, aber das ist richtig von dir: jetzt so forsch zu sein, wie du nie sein durftest, nicht bist.

»Ja, was gibt es hier denn schon?«, blickt Malik in die Lichter des Bahnhofsviertels.

Bettina setzt bieder-verfänglich nach: »Dort drüben, erinnere ich mich, soll ein ordentliches Weinlokal sein, selbst hier gibt es noch so etwas. Vielleicht möchten Sie auch noch ein Glas trinken?«

Malik sieht in die Richtung, Bettina geht schon, seine müden Schritte hinter sich herziehend (wie die Frauen ihre Freier dort drüben, doch sie verbot sich den Vergleich): Malik war ihr ins Netz gegangen beim Schachspiel am Rande der rotbunten Lichter.

Ich habe gewonnen, denkt Bettina, als zwei Rheinhessen serviert werden, wir sitzen hier als Paar zusammen, er gesprächiger als vorher, entspannt seine Zigaretten rauchend vom Automaten neben der Theke. Eben öffnet sich die Tür, ein junger Inder trägt die Abendzeitung herein:

MORD AN FRANKFURTER PROFESSOR!
KEHLE DURCHSCHNITTEN!

11 Messerstiche in den wehrlosen Körper des 75-Jährigen!

Auch Boris hat die Schlagzeilen gelesen, da fragt er plötzlich, die Pupillen zu zwei Pistolenlöchern verengt: »Was will Ihr Auftraggeber von mir?« Sein Rumpf ist straff aufgerichtet, seine Entspannung nur Vorbereitung zu diesem Sprung auf sie gewesen.