Markus Fellendorf
Remember T-Rex
Die Sonne blinzelt am Horizont des Südchinesischen Meeres. Es ist ein kühler Aprilmorgen des Jahres 2020 und alles deutet darauf hin, dass er weder interessanter noch unbedeutender wird als die vielen, unzähligen ersten Stunden verflossener Tage. Seevögel streifen auf ihrem Rundflug ein Gebiet einhundert Kilometer vor dem Südzipfel Taiwans. Ruhig wiegt das Wasser unter dem wolkenlosen Himmelszelt. Seit Generationen sind die Seevögel auf Nahrungssuche in diesem Gebiet und gewohnt, dass Mutter Natur in hiesigen Breiten nichts außer reichlich Fisch bietet. Doch heute registrieren ihre scharfen Sinne obendrein etwas völlig Befremdliches etwas Großes, was im trügerischen Wasser lauert. Die Vögel kreisen schon in beträchtlicher Höhe, als sich ein dumpfes Rauschen unter ihr Geschrei mischt. Abergläubische Seeleute pflegten früher zu sagen, dass das Meer als ihre Gemahlin und ständige Begleiterin auf diese Weise Abwechslung in den kargen Alltag bringt. Nichtsdestotrotz würden sie der Angetrauten heute Mordabsichten unterstellen, wären sie Zeuge dessen, was sich an einer kapriziösen Stelle im Wasser bei Tagesanbruch abspielt. Der Sonnenaufgang am Horizont scheint unterbrochen. Im lauter werdenden Rauschen zucken Blitze am Himmel, das friedlich vor sich hin wiegende Nass beginnt zu kreisen. Fragwürdigerweise, denn auf keiner Seekarte der Welt fänden sich an diesem Punkt Strömungen eingezeichnet, die Wirbel erzeugen könnten. Zum Glück liegen die Schifffahrtslinien weit entfernt einerseits. Andererseits ist kein Mensch dazu verurteilt, diesem Horrorspektakel beiwohnen zu müssen: Ein Sog mit hundertfünfzig Metern Durchmesser hat sich mittlerweile wie ein riesiger Trichter ins Meer gebohrt und reißt das Wasser mit sich in die Tiefe.
Die verstörten Seevögel haben bereits die Flucht ergriffen. Sie, die einzigen Zeugen, werden diese Stelle fortan in großem Bogen umfliegen. Woher wüssten sie auch, welch unfassbares Ereignis gerade seinen Anfang nimmt? Und wer überhaupt käme jetzt zu dem Schluss, dass erschreckende Dinge geschehen müssen, um weitaus Erschreckenderes zu verhindern?
Nach wenigen turbulenten Minuten kehrt das Wasser in den ursprünglichen Zustand zurück. So, wie der Sog kam, so geht er aus dem Nichts ins Nichts. Bald spiegelt sich im ruhigen Wasser die aufgehende Sonne. Der Horizont kann sie nicht länger festhalten.
Am Himmel zucken letzte Blitze. Aus westlicher Richtung kommend entladen sie sich dort, wo zuvor ein gewaltiges Loch klaffte: an jener Stelle im Südchinesischen Meer, einhundert Kilometer vor dem Südzipfel Taiwans.
* * *
Während im Fernen Osten der neue Tag anbricht, steht Tausende Kilometer westlich der alte noch in voller Blüte. Im Örtchen Bahía de la Plaja an der Nordwestküste Yucatáns wird Siesta gehalten. Unbedrängt scheint die Sonne herunter in dieser zweiten Nachmittagsstunde. Das idyllische Fleckchen Erde am Golf von Mexiko bezaubert durch seinen Frieden und seine Harmonie auf Yucatán, so sagen die Mexikaner, vergeht die Stunde in sechzig Minuten. Wobei der Schein trügt. Denn die lebensfrohen, kontaktfreudigen Menschen von Bahía de la Plaja werden seit geraumer Zeit von einer nicht zu erklärenden Unruhe geplagt. Hinzu kommt, dass der Ort, der größtenteils vom Fischfang lebt, mit einem Problem der besonderen Art konfrontiert wurde. Wenige Wochen ist es her, als schwindende Fischbestände das erste Mal von sich reden machten. Seitdem hält der Trend an die Gewässer der überschaubaren Bucht leeren sich kontinuierlich. Die Frage stellte sich, warum es so plötzlich und unerwartet geschah. Schließlich sahen sich die Einheimischen in stetem Einklang mit der Natur und fischten nur so viel, wie zum Leben benötigt wurde. Gegenwärtig versucht man, dem Problem von höherer Stelle aus auf den Grund zu gehen. Amerikanische und mexikanische Wissenschaftler wollen herausfinden, warum ausgerechnet in diesem Gebiet der Fischbestand so drastisch sinkt. Seit gestern gehen sie ihrer Arbeit nach und liegen mit einem gut ausgestatteten Forschungsschiff, der Albatros, vor der Nordwestküste der mexikanischen Halbinsel.
John Durret starrt aufs Wasser hinaus. Seine Augen haben kein Ziel erfasst. Regungslos steht er auf dem Deck der Albatros und krallt sich an der Reling fest. Der hoch aufgeschossene Mittvierziger mit der Stoppelfrisur bezeichnet solche Momente als Hineindenken in das Problem. Man kennt seine Lebensmaxime: Jede Aufgabe kann gelöst werden, wenn man sie nur richtig angeht. Diese zu praktizieren allerdings, war dem autoritären Meeresbiologen, der ein Forschungslabor in San Francisco leitet und Vorträge an verschiedenen amerikanischen Universitäten hält, auf See zuletzt selten vergönnt. Der brisante Fall Bahía de la Plaja kam wie gelegen, das zu ändern.
»Darf man kurz stören?«
John Durret wird aus den Gedanken gerissen. Magerith Sanchez, die Biochemikerin der Albatros, hat sich unbemerkt zu ihm gesellt.
»Haben Sie die Ergebnisse?«, fragt John ungeduldig.
Miss Sanchez bejaht. »Die mikrobiologischen und chemischen Analysen des Wassers sind abgeschlossen. Alle mikrobiologischen Parameter bewegen sich im Normalen keinerlei Auffälligkeiten. Und was die Chemie betrifft, müssten die Fische eigentlich zu- statt abwandern.« Sie reicht ihm ein Blatt Papier. »Sehen Sie selbst: Sauerstoffgehalt besser als erwartet, Salzkonzentration ohne Bedenken, keine Übersäuerung und von Radioaktivität nicht die Spur. Allerdings...«
»Allerdings?«, wiederholt John.
»...hat die Analyse der Spurenelemente etwas ausgesprochen Seltsames ergeben«, vollendet Miss Sanchez und deutet auf eine Zeile im unteren Drittel des Blatts.
John, grüblerisch: »Komisch, das Element Bor in solch hoher Konzentration?«
»Es ist eine Bor-Wasserstoff-Verbindung«, präzisiert Magerith, »sie könnte den Wegzug der Fische erklären.«
»Das kann unmöglich die Ursache sein«, wendet John sofort ein. »Die Bor-Konzentration ist zwar ungewöhnlich hoch, aber unproblematisch. Wissen Sie, Magerith, in nicht kontaminierten Gewässern verschwinden Fische bloß aus einem Grund: Irgendetwas da unten behagt denen nicht...« Der Meeresbiologe macht kehrt und steht nun mit dem Rücken zur Reling. »Die werden bestimmt nicht abwandern, um uns zum Narren zu halten oder um die Einheimischen zu ärgern.«
»Dann ist Doktor Lynn jetzt an der Reihe.« Lächelnd zieht sich Magerith zurück.
John ist inzwischen einmal mehr zur Salzsäule erstarrt. Nur einen flüchtigen Blick schickt er Magerith hinterher, deren Kopf gerade unter Deck taucht. Ja, er schätzt sie. Für ihn, den Perfektionisten, ist die engagierte Biochemikerin aus San Diego unentbehrlich. Hinzu kommt ihr siebter Sinn, das Gespür für des Rätsels Lösung.
Während das kristallblaue Wasser den Rumpf der Albatros streichelt, kommen Rodrigo und Mike, die zum Taucherteam gehören, auf John zu. Mike hält die Funkverbindung zu den anderen beiden Tauchern. Diese befinden sich seit Kurzem in der Tiefe und geben nun einen ersten Lagebericht: »Jungs, das Wasser ist herrlich klar! Heute Abend ist Pflichttauchen für die ganze Besatzung angesagt«, tönt es aus dem Funkgerät. »Die Fische müsst ihr jedoch suchen. Das Abendessen wird wohl ausfallen.«
Der zweite Taucher ist ernsthafter bei der Sache. »Die Pflanzenwelt scheint auf den ersten Blick intakt zu sein«, meldet er. »Das Seltsame ist: Aus dem Boden kommen stellenweise kleine Blasen. Ich prüfe das mal. Könnten Fische sein, die sich eingegraben haben.«
John reißt Mike das Funkgerät aus der Hand. »Pedro und George, kommt sofort hoch!«
»Was ist denn los?«, entfährt es Rodrigo. »Dass sich Fische im Sand verstecken, ist nichts Außergewöhnliches.«
»Pedro und George«, wiederholt John, »habt ihr verstanden?«
Die Taucher bestätigen und machen sich auf den Weg nach oben.
John atmet durch. »Ja«, sagt er zu Rodrigo, »es gibt Fische, die sich situationsbedingt im Boden eingraben. Verdächtig wäre nur, wenn ein Großteil der Populationen das lange Zeit beibehält. Mir gefällt das nicht.«
»Wir sollten Nautic II runterschicken«, rät Mike. »Vielleicht steckt die Antwort ja wirklich im Sandboden.«
Natürlich weiß John, dass der moderne Unterwasserroboter Mikes Lieblingskind ist. »Also gut, her mit dem Teil!«, stimmt er nach kurzer Gedankenpause zu.
Wie ein Kettenhund jagt Mike los. Sogar dem sonst so knurrigen John Durret entlockt er damit ein Lachen.
Bald sind Pedro und George an Deck. Den Tauchern ist die Verwirrung anzusehen. Als Mike zurück ist und mit Rodrigo zusammen Nautic II zu Wasser lässt, zählt auch Magerith wieder zu den Anwesenden. Die Neugier hat sie nach oben getrieben. Neben ihr Doktor Lynn. Der Geologe kann es kaum erwarten, sich von den seltsamen Blasen zu überzeugen.
Leichter Wind kommt auf, angenehm erfrischend für die Besatzung der Albatros, die in sengender Sonne die ersten Bilder vom Meeresboden herbeisehnt. Totenstille, sieben Augenpaare fixieren den Monitor. Bis es so weit ist und Nautic II in lupenreinen Aufnahmen kirschgroße, dem Sandboden entweichende Blasen zeigt.
»Sie sind größer geworden«, konstatiert George. »Und mehr.«
Vor dem Monitor versteinerte Gesichter, zeugend von Ratlosigkeit; Mageriths Augen sind weit aufgerissen.
»Thermalquellen?«, fragt Rodrigo.
»Ein Unterwassermärchen ist das«, säuselt Doktor Lynn, »eines, das nie erzählt wurde.« Er tippt Mike an. »Lassen Sie ihn mal bohren dort, wo die Blasen wie eine Säule aufsteigen.«
»Da ist gar nichts«, stellt Mike wenig später fest. »Nichts außer Sand. Die Blasen müssen von ganz tief unten kommen.«
»Was ist das?« George zeigt auf einen grün leuchtenden, langsam anwachsenden Peak auf der Datenleiste rechts neben dem Monitor.
»Nautic II registriert Vibrationen«, erklärt Doktor Lynn ungläubig. »Genauer gesagt, stärker werdende Vibrationen.«
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