Norbert Heinrich Holl
Von Leuten, die bei Tisch lesen
----------
Wenn man über die (Riedners) einen Roman schreiben müsste, die sahen wie gesunder Mittelstand aus. Strikt konservativ. Mit dem friedlichsten Lächeln der Welt saßen sie bei Tisch und strichen sich bedächtig Quittenmarmelade auf den Toast. In Wahrheit waren sie Magier und zauberten die schwierigsten, die unmöglichsten Dinge einfach herbei. Das Esszimmer war ihr Zauberkasten, ihre Schaubühne. Liebe und Tod, Verbrechen und Sühne, die großartigsten Schicksale der Menschheit holten sie ins Frühstückszimmer. An diesem Morgen nach Weihnachten kämpften sie die blutige Schlacht von Alesia oder spürten eine Verschwörung des Brutus auf oder sahen einem bildhübschen Mädchen zu, das sich in einer Pariser Dachkammer vor den Augen seines Geliebten auszog. In den Romanen, die die Riedners lasen, brannte der Urwald lichterloh. Ein Glockenturm wurde gesprengt, eine Postkutsche ausgeraubt. Leute schrien und heulten. Leben wurden gratis gegeben und genommen. Die Helden litten an geheimnisvollen Krankheiten, die in Deutschland längst als ausgerottet galten: Pocken, Cholera, Aussatz und dergleichen.
Familie Riedner nahm an ihren exquisiten Gebrechen Anteil. Zu all den Leiden strichen sie sich Quittenmarmelade aufs Brot. Denn vor ihnen lagen, aufgeschlagen und unter den Rand des mit blauen Zwiebelranken bedruckten Porzellantellers geklemmt, Bücher mit den unterschiedlichsten Geschichten. Die widerspenstigen Seiten wurden durch den Tellerrand am Hochschnellen gehindert. In Frau Riedners Küche sah alles nach Kupfer und Emaille aus. Nur auf dem Tisch stand Porzellan. Die Ursache waren eben die Bücher, die nur durch den Tellerrand gebändigt wurden. Sebastian hatte sich eine besondere Technik ausgedacht, um die Blätter zu zähmen. Während er sich mit der einen Hand das Essen in den Mund schaufelte, hatte er den anderen Ellbogen auf den Buchrand gepresst. Mit Unverständnis beobachtete er, wie die Seiten im Buch seiner Mutter bei jedem Windzug bebten. Sebastians Buch hingegen war infolge der Hebelwirkung der Armbeuge wie mit Eisenklammern am Tisch befestigt. Alle vier Riedners setzten sich morgens um sieben hungrig an den Tisch. Gesättigt standen sie wieder auf. Dann war es acht, und jeder von ihnen, ausgenommen Laetitia, hatte eine schmackhafte Portion Romanseiten vertilgt.
Sebastians Vater war ein gebildeter Mensch. Das wusste die ganze Familie. Er hatte nicht nur mächtige, weißfleischige Hände, sondern auch einen massigen Körperbau und ein herrisches Wesen. Vor allem hatte er viele Zahlen im Kopf gespeichert. In seinem Kopf sprang er über Jahrhunderte. Er wusste alles besser als der Rest der Familie, ja, als die Großen der Weltgeschichte. Er beriet den Großen Alexander, wie er gegen Darius zu Feld ziehen müsse. Dem Kaiser Augustus gab er Nachhilfestunden in Staatslenkung. Er empfahl Napoleon eine andere Schlachtordnung bei Leipzig und Waterloo. Er blickte auf das Tatsächliche. Bei ihm gab es kein Missverstehen des historischen Augenblicks. An schlechten Tagen neigte er zum Zynismus, an guten zu Gönnerhaftigkeit. Er vereinigte widersprüchliche Charaktereigenschaften in einem einzigen Kopf. Er hatte einen Kopf, in dem steckten Alexander, Augustus und Napoleon zusammen. Vom Nachdenken hatte er ernste Verantwortungsfältchen an den Mundwinkeln und eine graue Strähne rechts im Schläfenhaar bekommen, er war gleichzeitig streitsüchtig, aber auch um die Menschheit besorgt. Den dürftigen Bildungsstand seiner Familie, der sich täglich beim Lösen von Kreuzworträtseln zeigte, trachtete er durch Lektüre geeigneter Bücher wie Lexika und Atlanten zu verbessern. Er war von der Überzeugung beseelt, selbst ein Oberpostrat könne im Büro keinen klaren Gedanken fassen, wenn er nicht zum Frühstück ein vernünftiges Buch gelesen hätte.
Auf der Hauptpost am Markt war ihm die Aufgabe anvertraut, die Briefbeförderung im Großraum von Heidelberg zu koordinieren. Man will es nicht glauben, wie viel da täglich schieflief. Als Leiter der Hauptpost hatte er übersichtliche Vorstellungen. Das Lesen beim Frühstück half ihm beim Ordnen seiner Gedanken und Koordinieren der Briefströme. Die Bücher erzählten von großartigen Begebenheiten und trösteten ihn über die Erkenntnis hinweg, dass in den meisten Briefen Schmutz und Schund befördert wurden. Er wusste, im Allgemeinen wurden nur üble, missgünstige Gedanken dem Briefpapier anvertraut, Gedanken, die man nicht auszusprechen wagte, die nun auf dem Papier schwammen wie Fettaugen auf einer ungenießbaren Brühe. Nur Postkunden, die daheim keine Bücher lasen, dachten sich solch gemeine Briefe aus. Wenn Herr Riedner abends das Büro abschloss, hatte er vom Koordinieren der Briefströme klebrige Hände bekommen - zumindest bildete er sich das ein. Deprimiert ging er nach Hause. Auf der Straße, wenn der Wind vom Neckar auffrischte, sehnte er sich nach dem Roman, der ihn daheim erwartete, wie Leute, die im Bergwerk arbeiten, sich nach Feierabend eine Sauna mit Fichtennadelduft herbeiwünschen. Die Leute auf der Straße grüßten Herrn Riedner von rechts und links. Sie zogen höflich den Hut oder beugten den Rumpf im stumpfen Winkel. Denn der Oberpostrat war wegen seiner Zuverlässigkeit beliebt. Herr Riedner antwortete zerstreut. Lügen konnte er nicht ertragen, egal, ob sie in Briefen befördert wurden oder über die Lippen grüßender Passanten sprudelten. Nur in Büchern fand er Aufrichtigkeit. Daher freute er sich auf das Abendessen, das aus Endiviensalat, gebratenem Speck und hart gekochten Eiern sowie einer nahrhaften Portion Balzac bestand.