HOLL 'Von Leuten, die bei Tisch lesen.'


Welcher Zauber mag über einem Prosatext liegen, dem der Leser fasziniert erliegt und wie in einem langen, langen Atemzug alle vierhundert Seiten dieses Romandebüts verschlingt? Es ist der Zauber der so denkbar rar gewordenen Kunst des Erzählens. Dieser Autor beherrscht sie. Wer literarisch versiert ist, wird in Stil und Sprachduktus Anklänge an Paul Heyse entdecken, ohne dass dessen oftmals überhöht wirkende Wortverliebtheit adaptiert wurde. Holl stellt hier einen anspruchsvollen Entwicklungsroman vor, anspruchsvoll deshalb, weil er die Dramaturgie der über hunderte von Seiten bewahrten Unterspannung beherrscht und hierbei ohne jene billige Effekthascherei auskommt, die heutige Veröffentlichungen kennzeichnen. Es sind Sätze wie 'Anke ist verschwunden. Von einem Tag auf den anderen hat sie sich in Luft aufgelöst, in weniger als Luft. Denn in der Luft würde ihr Duft aufbewahrt', deren Schlichtheit begeistern. Oder: 'Wenn er mit dem Finger die aufgestaute Asche antippte und in den Aschenbecher rieseln ließ, hatte er Schultern, die so breit waren wie die der Götter im Olymp'.' So schreibt nur einer, der seiner durch ein gerüttelt' Maß an Lebenserfahrung gestählten Inspiration nicht genial freien Lauf läßt, vielmehr penibel darauf achtet, was er dem Leser vor Augen zaubern möchte. Und da haben wir es wieder: das Verzaubern durch Sprache! Dabei ist der Plot simpel. So simpel wie alles literarisch Ungekünstelte. Er handelt von Sebastian, eingangs dem Leser noch als Kind vorgestellt, dessen Eltern einer Obsession huldigen - dem des Bücherlesens, besser Verschlingens von Texten jedweder Qualität. Sebastian gerät so unversehens an einen Schmöker über ein die Südsee bereisendes Forschungsschiff, dessen Begleitboot havariert. Solche Dramatik hält ihn gefangen. Er träumt sich fortan in die Rolle des großen Tiefseeforschers hinein, ein Traum, der ihn nicht mehr losläßt und ihn Jahre später als Student das Fach Ozenanologie belegen läßt. Das in der Kindheit Gelesene, jene fiktive, elternhausdurchwobene Erlebenswelt, wiederholt sich mehr als ein Jahrzehnt später bei einem Aufenthalt an der Nordsee als bedrückend reale Schiffskatastrophe... Was der Autor aus dieser einfachen Geschichte gemacht hat, wie er die Charaktere zeichnet und die Umstände, in der sie wirken, sprachlich fein garniert, das ist schon eine große Leistung. Der Leser wird hineingesogen in die Handlung, ähnlich jenen kräftigen Unterströmungen, die ein ruhiges Wasser dem Auge so trügerisch idyllisch erscheinen läßt, bis er sich nicht mehr wehren will oder kann und im Strudel der Ereignisse unterzugehen beschließt. Weil -? Weil er bis zum letzten Buchstaben der letzten Zeile auf Seite 406 einem Erlebnis teilhaftig sein möchte, das ihn im besten Sinne des Wortes aufwühlt. Es ist die Teilhabe am Schicksal des Romanhelden und derer, die ihn begleiteten. Er wird, wieder zu Luft gekommen, feststellen, daß er eine der besten Literaturen der letzten Jahre in den Händen hält. Und das ist im zeitgeistig so absichtsvoll derangierten Buchmarkt das höchste Lob, das ein Rezensent für ein Debüt auszusprechen vermag.

J. Michael Baerwald, www.deutscher-buchmarkt.de