Barbara Ch. Jakob

Flugangst

Roman



6. Kapitel:

Fausts Schwester

Flieh! auf! hinaus ins weite Land!

Faust I

Fausta: günstig, gesegnet; auch römischer Beiname

Sie fuhren und sprachen nicht darüber, wohin sie fuhren: "Correre insieme, senza limiti nel cuore..." "Seite an Seite fahren, ohne Grenzen im Herzen..." wie es Gianna Nannini in ihrem Song Avventuriera singt. Ihnen war klar, dass sie ans Meer wollten, nach Süden, an die Riviera mit ihren Steilküsten und vielen kleinen Buchten, den sichelförmigen Stränden, der unendlichen Brandung und der Pracht, die dieser Küstenabschnitt hervorbringt (und all dem Elend, das dort auch wohnt, doch davon später).

Ludvig saß am Steuer. Er fuhr konzentriert und starrte aufmerksam in die Dunkelheit. Die Fahrbahn war im gelben Scheinwerferlicht schlecht zu erkennen. Aurora saß erwartungsvoll neben ihm und genoss es zum ersten Mal in ihrem Leben, dass ein Mann den Wagen steuerte, in dem sie sich befand. Bevor sie losfuhren, hatte Ludvig höflich gefragt, ob sie fahren wolle. Sie wollte nicht. Sie wollte, dass er fuhr. Sie wusste selbst nicht, warum. Sonst mochte sie es nie, wenn ein Mann den Wagen steuerte, in dem sie saß. Seit sie ihren Führerschein hatte, hatte sie es fertig gebracht, meist selber am Steuer zu sitzen. Doch bei Ludvig war es anders. Sie hatte es gern, wenn er fuhr!

Sie sprachen wenig. Nur hin und wieder, wenn unklar war, welche Richtung sie nehmen sollten, oder wenn eins der Straßenschilder schlecht zu erkennen war. Sie redeten auch nicht darüber, was kurz vor der Abfahrt zwischen ihm und Marie vorgefallen war. Wenn Aurora aufrichtig war, wollte sie auch nicht darüber reden. Sie wollte fahren: durch Italien, durch Europa, durch die Welt (gemeinsam mit Ludvig durchs Leben?). Vielleicht glaubte sie, das Geschehene würde in der Dunkelheit versinken und sich in Nichts auflösen, wenn sie nicht darüber redeten.

Die Nacht mit ihren sich jäh verdichtenden und wieder auflösenden Nebeln und Schatten umhüllte sie – verschwiegen, bedingungslos und die bekannte Handschrift der Dinge verwischend. Wie Kobolde wuchsen sie aus der Dunkelheit, huschten vorbei und verschwanden wieder.

Ludvig legte Kassetten mit Popmusik ein. Und begleitet von David Byrne, Gianna Nannini, Eric Burdon und seinen Animals waren sie das vorwärts strebende Zentrum einer dunklen, erregenden Welt. Sie waren Hals über Kopf aufgebrochen. Wohin? Und warum wollte Ludvig so überstürzt weg? Doch eine Antwort auf diese Frage war nicht wichtig. Wichtig war, dass sie zusammen durch die Nacht fuhren - wie all die anderen durch Zeiten und Räume reisenden Tramps, Romantiker, Existenzialisten, Vaganten und fahrenden Poeten vor und nach ihnen. Sie waren beide erregt, äußerlich jedoch ruhig. Und beide vermieden sie es, einander in die Augen zu sehen - als könnte das Verschmelzen ihrer Blicke jene verheißungsvolle Erwartung auslöschen, die ihre Seelen und Körper erfüllte, und alles in ein Etwas zurückverwandeln - mild und schlapp wie lauwarmer Haferschleim.

Ludvig konzentrierte sich aufs Fahren. Gleichzeitig fragte er sich, was Aurora von ihm erwartete. Was wollte sie? Was sollte er für sie sein? Der potente und sensible Mann? Der Mann, der die Frauen verstand? Warum hatte sie nicht lockergelassen und es so weit gebracht, dass er immer wieder mit ihr schlief, sodass sie jetzt in diesem Auto zusammen durch die Nacht fuhren und er sogar froh war, dass sie es taten? Bisher wusste er nicht viel mehr von ihr als den Namen - Aurora. Kam nicht oft vor, der Name. Eigentlich hatte er ihn noch nie gehört. War irgendwas Lateinisches. Wer gab seiner Tochter so einen Namen? Er erinnerte sich, dass Marie ihn erwähnt hatte, als sie von ihrem Leben vor der WG erzählte. Marie und sie hatten offenbar noch miteinander zu tun. Er hatte sie schon mal in der Wohngemeinschaft gesehen. Flüchtig. Aber erst als Marie und sie in Locarno auftauchten, brachte sein Gedächtnis den Namen und das, was es über die Person wusste, zusammen. Die Freundin von Richard. Er hatte Richard an der Uni erlebt. War lange her. Auf den ersten Blick war sie keine auffallende Erscheinung. Aber sie besaß Ausstrahlung. Das hatte er in dem Café an der Seepromenade sofort gespürt. "Sexuelle Belästigung!" Ziemlich frech. Doch seine Neugier war sofort wach! Was war das für eine Frau, von der Marie etwas spöttisch und gleichzeitig bewundernd erzählt hatte, dass sie viel las, schwierigste wissenschaftliche Zusammenhänge mühelos verstand - sodass sie sie ihr erklären konnte -, mehrere Sprachen sprach, leicht neue lernte - im Augenblick schien sie Italienisch zu lernen - und der das Studium Spaß gemacht hatte? Ihm hatte die an den Universitäten betriebene Wissenschaft nicht gelegen. Während seines Studiums war er manchmal so frustriert, dass er mehrmals nahe dran war, alles an den Nagel zu hängen und was anderes anzufangen. Sich nicht unterkriegen lassen - das sagte sich leicht. Aber die Wissenschaft saugte einem das Mark aus den Knochen.