Martin Lenz
Die fremde Tochter
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Nadine war schuld, sagte sie selbst. Sie hatte Wert gelegt auf die Nachfeier von Ankes neunzehntem Geburtstag, das Kind weniger. Es hatte unwillig zugestimmt, und das auch nur, weil die Mutter so nachdrücklich darum gebeten und gesagt hatte, dass man wieder einmal ein bisschen zusammensitzen müsse, um gemeinsam die Vergangenheit vorüberziehen zu lassen und von der Zukunft zu sprechen. Schließlich mache Anke im kommenden Frühjahr Abitur und wäre im nächsten Jahr vermutlich gar nicht mehr im Haus. Vater Fritz müsse deshalb eingeladen werden, und wenn Schulfreundinnen kommen wollten, würde sie, Nadine, einen besonderen Kuchen vorbereiten.
»Nee«, sagte Anke, »Schulfreundinnen kommen nicht, aber den Berni, den könnte man ja fragen, vorausgesetzt, dass der Junge Zeit hat und am Ort ist. Bei Berni weiß man nie.«
Schulfreund Berni war ein heikles Thema zwischen Anke und Nadine. Die Mutter wollte nicht daran rühren. Es ließ sich auch sonst vieles nicht mehr so einfach regeln mit dem Kind, jedenfalls nicht mehr so einfach wie in den ersten Jahren. Anke zeigte bei jeder Gelegenheit einen spröden Dickkopf. Wenn sie jetzt zu einer kleinen Nachfeier im Familienkreis bereit war, durfte man schon zufrieden sein.
Das Mädchen hatte früher einmal zu verstehen gegeben, dass sie die Trennung ihrer Eltern nicht begreifen und die These ihrer Mutter von der Unvereinbarkeit der beiderseitigen Lebensvorstellungen nicht nachvollziehen könne. Die Mutter liebte sonst die Offenheit, aber in diesem Punkte konnte sie nur darauf verweisen, dass das Kind älter werden sollte und dann von ganz allein merken würde, dass es Dinge gäbe zwischen Mann und Frau, die sich nicht so einfach erklären oder gar wegstecken ließen.
Jetzt war Anke nun älter geworden und eines von diesen >Dingen< war ihr begegnet. Sie hatte der Mutter zuliebe den Gang zu ihrem >Zahlvater< gemacht und dort etwas Unbegreifliches erlebt. Mutter und Tochter schauten sich an und das Kind hatte plötzlich Tränen in den Augen. Nadine nahm sie in den Arm, erstmals wieder seit langer Zeit, und streichelte ihren Kopf: Ihr Vater, der echte, der Zahlvater, war in die Hände einer Hexe geraten und hatte den Verstand verloren. Er tickte nicht mehr, wie ein Vater normaler- also üblicherweise tickt. Anke drückte sich vorsichtig aus.
Das Kind besaß einen eigenen Schlüssel zur väterlichen Wohnungstür in der zweiten Etage, schloss unhörbar auf, streifte die Schuhe ab, schlich in ihren dicken Stricksocken durch den kleinen Flur und sah aus dem Dunkel heraus den Fernseher laufen.
Ihr Auftritt und ihr Anliegen sollte eine Überraschung sein, eine liebe Botschaft für den Ehemaligen ihrer Mutter. Man läuft seinem >Zahlvater< nicht nach, zumal als Frau und schon gar nicht, wenn man vor dem Abitur steht und den Kopf mit anderen Dingen voll hat, voll zu haben hat. Es war also etwas ganz Besonderes, wenn Anke jetzt in der Wohnung von Vater Fritz stand.
Zum Wohnzimmer führte eine Glastür und so konnte man die ganze Szene, die ekelhafte Tatscherei, auch sogleich sehen. Da saß das väterliche Verhältnis auf dem Teppich und pusselte an ihm herum. Die Frau war die dritte oder vierte Bekanntschaft des Vaters, seit er aus der Firmenwohnung ausgezogen war. Dagegen gab es nichts zu sagen, aber diese Frau war die erste aus dem Osten und das merkte man ihr an.
Anke kannte die Neuerwerbung und die Mutter hatte ihr verständlich gemacht, dass man es als wünschenswert ansehen müsse, wenn Fritz nun in festen Händen wäre, und hoffentlich wäre er das auch. Aber was waren das für Hände, und vor allem, was für ein Mund!
Zufällig war das Kind den beiden vor Wochen in der Stadt über den Weg gelaufen, und Fritz stellte seine neue Bekanntschaft vor: »Doris, Doris aus Thüringen, aus Kölleda.«
Doris hatte nur etwas verlegen gelächelt, und bei dem wenigen, was sie dann über die Lippen brachte, sei klar geworden, so Anke zu ihrer Mutter, dass diese Frau gut daran täte, möglichst wenig zu reden.
Das Mädchen wollte nur etwas Konversation machen und fragte, ob die Doris denn nun froh sei, endlich überall herumreisen zu können. Sie hatte gefragt, ohne sich dabei etwas zu denken oder gar jemanden beleidigen zu wollen. Aber die Frau schnappte gleich ein: »Ach Jott, nee, wissense, Frollein, ich habe jar geene Lust, in der Welt herumzugutschieren. Vielleicht liejt das daran, dass ich immer schon reisen gonnte. Se müssen nämlich wissen, ich war Reisegader in meinem alten Betrieb.«
Fortan sprach Anke nur noch von Papas >Reisekater aus Getschenbrouda<. Und wenn das Gespräch auf das >Verhältnis< kam, mokierte sie sich über die Dämlichkeit der Männer, besonders der älteren. Eine verantwortliche Finanzverwaltung hätte nie im Leben solche armen abgeschobenen Väter als Berater in die neuen Länder schicken dürfen. Das hätte man wissen müssen, die sächsischen Weiber sind nur hinter dem Geld her und hinter Papas Pension.
Der >Kater< also saß auf dem Teppich, drehte den Rücken zur Tür und war, soweit es ein kurzer Blick erfassen konnte, kaum bekleidet. Fritz lag im Fernsehsessel, und die dumme Tussi, fett wie sie war, rekelte sich ihm zu Füßen, an sein Knie gelehnt und mit irgendwelchen Zärtlichkeiten beschäftigt. Beide starrten wie gebannt auf die Mattscheibe, gefesselt von einem Video, einem perversen Streifen, einem Film für Männer, die >andersherum< sind. Jünglinge tummelten sich im Bild, nackte Knaben turnten an Geräten und zappelten dabei herum, dass es einem den Magen umdrehte. Anke wollte es nicht glauben, dass ihr Vater daran Spaß haben könnte. Für sie gab es nur die eine Erklärung, die neue Tussi hat ihn verhext.
Nadine bestätigte ihre Tochter, fand aber, dass man das Gesehene nicht dramatisieren dürfe. Es gäbe eben schlimme Dinge, und das schon immer und seit Ewigkeiten.
Nichts Neues, denn Anke war schließlich voll aufgeklärt. Sie hatte wie alle ihre Freundinnen ein reges Interesse daran, wer mit wem und was, und meinte im Grunde, dass es in der Firmenfamilie viel zu wenig Stoff zum Vermuten und Erzählen gab, aber Dinge, die zum Himmel schrien, waren ihr trotzdem zuwider. Jetzt sah sie eine Grenze überschritten. Es war ihr Vater, es war ihr Kummer, ihr Entsetzen, und wenn die Mutter die Angelegenheit verharmloste, dann sprach das gegen ihre Mutter und war ein Faktum, das man ertragen musste, und das Ertragen von Fakten war ihre starke Seite. Die Fete sollte sein, also nahm sie erneut Kontakt zu dem ahnungslosen Vater auf und lud ihn telefonisch zu der Familienfeier ein. Dabei hatte sie nur eine Bedingung, er müsse ohne seine Tussi kommen.
Das war dem Vater gar nicht recht. Er hätte zu gern die Gelegenheit genutzt, die neue Freundin in seiner alten Familie einzuführen, aber es war Ankes Party und so sollte es nach ihrem Wunsch gehen.
Die Firma hatte die beiden Chefreiseleiter, Frank und Nadine, in der ersten Oktoberwoche von größeren Fahrten freigestellt. Es war die Erholungspause vor dem Jahresendspurt. Nadine musste danach zwei Vierzehntagestouren durchführen, eine davon nach Kreta, und Frank hätte nach Ägypten fahren müssen, doch schon im Sommer kündigte sich eine Planänderung an.
Tote am Nil beunruhigten den Tourismus, Schüsse waren gefallen und weitere Anschläge angekündigt. Einige Mutige wollten trotz allem an der Fahrt teilnehmen, aber der Interessentenbestand bröckelte bald so weit, dass man absagen und Ausweichziele anbieten musste: Südtürkei, Marokko oder Kreta. Für Kreta als Ersatz fanden sich die meisten Stimmen. Da Nadine Mitte Oktober sowieso in Kreta war, schlug sie vor, dort zu bleiben und die Gruppe der verhinderten Ägyptenfahrer in Hiraklion zu empfangen. Ihre Zweitfahrt in diesem Herbst könnte eine Kollegin übernehmen, und Frank wäre frei für kleinere Ein- oder Mehrtagestouren in Deutschland oder könne sich der Katalogvorbereitung für das nächste Jahr und seinen Hieroglyphen widmen.
Die Umbuchungen kosteten Nerven und waren mit viel Schreiberei verbunden.
Hinzu kam Ankes Enttäuschung. Sie hatte sich wider Erwarten bereit gezeigt, an einer Ägyptenfahrt teilzunehmen. Die Herbstferien wollte sie opfern und die erste Schulwoche danach, für sie angeblich >technisch< kein Problem. Aber nun dieser Reinfall, Pyramiden, Theben, Luxor, alles geplatzt. Ins Land des Barfuß-Riesen wäre sie gefahren, das hätte Sinn gemacht, aber sonst, nein, der Rest der Welt interessierte nicht.
Nadine war erleichtert, denn sie wollte der Schulschwänzerei keinen Vorschub leisten, drückte nun aber ihr Bedauern aus und bot Kreta als Ersatz an, Kreta - nach dem Abitur.
Da schwoll Anke wieder einmal an und wurde wütend: »Kreta, verdammt noch mal, was soll ich in Kreta? Mich interessiert dieses verrückte Land überhaupt nicht, Kreta ist eine ganz perverse Ecke.«
Nadine suchte einen Kretabildband mit ausführlichen Erläuterungen heraus. »Hier, lies dir das einmal durch, schenk ich dir, nachträglich sozusagen, zum Geburtstag.«
Anke stöhnte leise vor sich hin: »Leg den Schinken auf die Kommode. Wenn ich einmal Zeit habe, schaue ich vielleicht hinein.«
Es klang, als würde sie die nötige Zeit sobald nicht haben. Doch schon am nächsten Abend hatte sie sich informiert. »Nichts Neues, genau die widerlichen Storys, die man kennt.«
»Aber was denn, Kind? Erklär dich, es interessiert mich, rein theoretisch, was ein junger Mensch heute gegen Kreta einzuwenden hat.«
»Man hat überhaupt nichts gegen die Insel. Was sollte man dagegen haben? Es ist vielmehr das, was ihr daraus macht, dieser abscheuliche Kulturzirkus, der jedem normalen Menschen auf den Keks geht.«
Das Kind sprach in Rätseln. Nadine schaute hilflos über die dampfenden Kartoffeln und sprach dann verhalten engagiert von den herrlichen Palastruinen, den gewaltigen Komplexen, in denen sich einst drei Kontinente friedlich ausgetauscht hätten: »Europa hat hier seinen Namen bekommen.«
»Ich weiß«, stöhnte Anke auf. »Ich kenne das Gefasel von Göttern und Helden und ihrem abartigen Gemache. Eine abscheuliche Welt wird ausgebreitet in deinen Büchern. Überall liegen die Wälzer herum, man kann sie gar nicht übersehen. Ich habe nichts gegen die schlanken Jünglinge auf den Wandbildern, ich kann sogar verstehen, dass du ins Schwärmen kommst, aber die Sache mit der Königin, ich bitte dich, das ist der Gipfel.«
»Welche Königin?«
Anke hatte den Namen vergessen, aber der war auch völlig nebensächlich. »Der Name besagt nichts. Darum geht es, dass eine Frau, eine Königin, sich wünscht, von einem Stier besprungen zu werden. Mit einem solchen Urviech zu vögeln, nein, das ist das Letzte. Du erinnerst dich hoffentlich, die Geschichte gehört zu deinem Repertoire, die verrückte Fantasie von dem Weib, das sich ein Gestell bauen lässt, hineinkriecht und sich unter einer Kuhhaut versteckt, damit der Stier nicht merkt, wen er vor sich hat. Der Bulle ist nur ein Tier, aber er empfindet normal und braucht die Illusion, dass er es hier mit einer echten Kuh zu tun hat. Mein Gott, wenn man sich die Einzelheiten klarmacht, ist das doch eine wahre Sauerei. Und lauter solche verqueren >Dinger< verkündest du auf deinen Bildungsreisen. Ich habe schon gemerkt: Was für meinen Vater die Pornos sind, sind für meine Mutter die klassischen Kulturgüter.«