Wird die Schule eine Institution, in der die Heranwachsenden sich in ihrer Ganzheit erleben und ausdrücken dürfen, so wird sie ein Ort, der identitätsstiftend ist und die kreative, produktive und soziale Seite des jungen Menschen stützt und beseelt. Werden junge Menschen nicht in allen Aspekten ihrer Persönlichkeit angesprochen und aufgefangen, findet die positive aggressive Kraft keine konstruktive Richtung für ihre Entwicklung. Sie wird zerstörend und hinterlässt eine Spur, wie es bei dem furchtbaren Drama an einer Schule in Littleton, USA, geschehen ist: fünfzehn Schüler und Lehrer starben.
Längst hat uns ein solches schreckliches Geschehen, was uns sehr weit weg schien, am 26. April 2002 in Deutschland eingeholt. In Erfurt erschoss ein neunzehnjähriger ehemaliger Schüler an seinem alten Gymnasium neun Lehrer, vier Lehrerinnen, zwei Schülerinnen, eine Sekretärin, einen Polizisten und zum Schluss sich selbst. Was ist in diesem jungen Mann vorgegangen? Was hat ihn bewegt, einen derartigen "erweiterten Suizid" durchzuführen?
Eine solche Tat geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern ist eingebunden in Zusammenhänge, die uns alle betreffen. Um aus dieser schwerwiegenden Erfahrung zu lernen, müssen wir über die Frage der individuellen Schuld - waren es die Eltern, die Mitschüler oder die Lehrer? - hinausgehen. Nur das gemeinsame Streben nach Erkenntnis und die sich daraus ergebenden richtungsweisenden Handlungsansätze führen zu einer Veränderung, die sich auf das gesamte gesellschaftliche, menschliche Umgehen miteinander bezieht. Alle, und damit meine ich auch die Eltern, Schüler und Lehrer sämtlicher Schulen in Deutschland, müssen sich fragen: Wie sind wir wirklich persönlich miteinander in Verbindung? Wie hören wir auf die Hilferufe unserer Kinder und Schüler und wie weit sehe ich meinen eigenen Anteil an der Schaffung einer von Respekt und liebevollem Miteinander getragenen familiären und schulischen Atmosphäre?
Eine derart grausame Tat rüttelt die ganze Gesellschaft auf, beschäftigt für einige Tage die höchst politischen Ebenen und füllt die Nachrichten unserer Medien. Aber was ist mit den vielen jungen Menschen, die von ihren Eltern, Mitschülern und Lehrern allein gelassen und zurückgewiesen im Stillen an ihren seelischen Verletzungen verzweifeln, die innerlich an den krankmachenden Zuständen in ihren Familien und unserer Schulen zerbrechen oder ihre vermeintliche "Lösung" nur in ihrem eigenen Selbstmord suchen, ohne andere mit in den Tod zu nehmen?
Werden wir erst dann in unserer doch so heilen Welt wach, wenn Terroranschläge die Welt erschüttern und schreckliche Ereignisse zum Tod von vielen unserer Mitmenschen führen?
Ich möchte an dieser Stelle ein Gedicht wiedergeben, das Thich Nhat Hanh 1998 geschrieben hat, um uns das Erleben von vielen jungen Menschen auf dieser Welt näher zu bringen. Die Worte könnten, neben anderen, ebenso von einem jungen Palästinenser, Iren, Basken, Afrikaner, Israeli oder Thailänder sein.
Entschärft mich
Wenn ich eine Bombe wäre,
jederzeit bereit zu explodieren, wenn ich zu einer Gefahr
für euer Leben geworden bin,
dann müsst ihr euch um mich kümmern.
Ihr glaubt, ihr könntet mir entfliehen,
aber wie?
Ich bin hier, mitten unter euch.
(Ihr könnt mich nicht aus eurem Leben entfernen.)
Und jederzeit könnte ich explodieren.
Ich brauche eure Zuwendung.
Ich brauche eure Zeit.
Ich brauche euch, damit ihr mich entschärft.
Ihr seid für mich verantwortlich,
denn ihr habt gelobt (und ich habe es gehört),
zu lieben und Sorge zu tragen.
Ich weiß, dass ihr viel Geduld braucht,
wenn ihr euch um mich kümmern wollt,
viel Besonnenheit.
Ich merke, dass auch in euch eine Bombe tickt,
die es zu entschärfen gilt.
Warum also helfen wir einander nicht?
Ich brauche es, dass ihr mir zuhört.
Niemand hat je zugehört.
Niemand versteht mein Leid,
auch die nicht, die sagen, sie lieben mich.
Die Qual in meinem Inneren
erstickt mich.
Sie ist das TNT,
aus dem die Bombe besteht.
Es gibt sonst niemand,
der mir zuhören will.
Deshalb brauche ich euch.
Ihr aber scheint euch mir zu entziehen.
Ihr wollt euch retten, Sicherheit finden,
diese Art von Sicherheit, die es nicht gibt.
Ich habe meine eigene Bombe nicht geschaffen.
Ihr seid es.
Die Gesellschaft ist es.
Es ist die Familie.
Es ist die Schule.
Es ist die Tradition.
Macht also nicht mich dafür verantwortlich.
Kommt und helft;
tut ihr das nicht, werde ich explodieren.
Das ist keine Drohung. Es ist ein Hilferuf.
Ich werde euch auch zur Seite stehen,
wenn ihr so weit seid.
Wir Erwachsene dürfen nicht die Hände über unseren Köpfen zusammenschlagen und in Hilflosigkeit erstarren. Diese Notsignale der Jugend erfordern keine Ausgrenzung, sondern ein Aufeinanderzugehen, das Verstehen der Zusammenhänge und das Finden von Lösungswegen, die für die Täter und Betroffenen heilsam sind und neue Wege weisen.
Kräftemessen, körperliches Konfliktaustragen durch Raufen gehören zur kindlichen Entwicklung. Alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten, wie diskutieren, zuhören, Standpunkte vertreten, müssen wir als Eltern und Pädagogen unseren Kindern und unserer Jugend erst vorleben.
Wir verstehen die Zeichen der Jugend nicht. Wir sehen ihre Brutalität, aber erfassen nicht, was in ihren Herzen vor sich geht.
Versetzen Sie sich in die Herzen unserer Jugend. Versuchen Sie es! Was sehen Sie? Hoffnungslosigkeit, Angst vor der Zukunft, Fragen nach dem Sinn des Lebens, Angst davor, wohin sich diese Welt bei der globalen Zerstörung entwickeln wird, Trauer um den Verlust der Erwachsenen, die sie auf ihrem Weg allein lassen? Wir können uns nur einfühlen in unsere Kinder, wenn wir still werden. Damit meine ich, dass wir uns gedanklich zurücknehmen, unsere eigenen Vorstellungen und Meinungen beiseite lassen und wirklich offen sind für das, was in unseren Kindern vor sich geht. Es ist wie beim rechten Zuhören. Innerlich müssen wir leer werden, damit etwas anderes in uns hinein kann, ohne sofort sortiert, zensiert und bewertet zu werden. So kann die notwendige Offenheit entstehen, die Grundlage ist für das Wahrnehmen dessen, was im Herzen unserer Kinder ist. Für unsere Kinder ist dies ebenso notwendig. Sie haben selbst häufig verlernt, ihr eigenes Herz zu verstehen.
Soll ein Gefäß Wein aufnehmen,
so muss man notgedrungen das Wasser ausgießen;
das Gefäß muss leer und frei werden.
Gieß aus, damit du erfüllt werdest!
Alles, was aufnehmen und empfänglich sein soll,
das soll und muss leer sein.
(Meister Eckehart, 1984, Bd. I, S.74)