Gitta Seeger
Geld wie Heu
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Meine Großeltern verdingten sich als Heuerleute, arme Bauern, die ein Stückchen geliehenes Land eigenständig beackern durften. Das bedeutete, alles an begonnener Arbeit stehen und liegen zu lassen, wenn der reiche Lehnsherr rief, um seine Felder bestellt zu bekommen.
Dem bösen Sturm im Jahre 1976 hielt das kleine Heuerhäuschen nicht mehr stand. Er trug kurz und schmerzlos mit nur einer einzigen heftigen Windböe den baufälligen, maroden Dachstuhl auf das nahe gelegene Weizenfeld.
Mein handwerklich begabter Vater begann daraufhin, ein neues, stabileres Haus zu bauen, das er genau neben die alte Ruine setzte. In der Zwischenzeit hausten wir mehr schlecht als recht in dem Heuerhaus, die obersten Holzbalkendecken provisorisch mit Stroh gegen die Kälte und mit Folie gegen den Regen abgedeckt.
In meiner Bauernschaft war die Welt noch in Ordnung. Ich hatte das jedenfalls so aufgefasst, wohl weil ich nichts anderes kannte, und erlebte trotz etlicher Einschläge eine wunderbare Kindheit mit vielen Freunden und einer besten Freundin namens Marie, mit denen ich spielen konnte.
Unter anderem zählten einige Haustiere ebenfalls zu meinen Freunden. Das waren zwei Kaninchen, die von mir Hanni und Nanni gerufen wurden. Ein süßes schwarz-weiß gesprenkeltes Zwerghuhn, das Tucki hieß und zwei Schafe, ein Lamm mit seiner Mutter.
Das Lamm wurde Leo getauft, seine Mutter Leomutter. Außerdem gab es meine Miezi, eine kuschelige grau-weiß getigerte Katze mit Pfoten, die, obwohl sie immer auf dem schwarzen Acker herumstrolchte, blendend weiß waren.
Ich vergaß jetzt, zu erzählen, dass dieses nicht die einzigen Tiere waren, die bei uns lebten, vielmehr hielt meine Oma Käthe eine Menge an Hühnern, Kaninchen und Schafen, von denen ich mir dann die Schönsten herausgesucht habe, um mit ihnen zu spielen.
Eines Tages jedoch, ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, als ich gerade vom Spielen mit meiner Schulfreundin Marie nach Hause zurückkehrte, hatte ich ein schreckliches, traumatisches Erlebnis.
Auf dem Weg zu Hanni und Hanni - sie hatten noch nichts zu fressen bekommen, und ich wollte sie füttern - kam mir mein Onkel Jupp entgegen. Ich sagte kurz »Moin«, er grüßte zurück. In dem Augenblick sah ich zehn rosarot glänzende, nasse, längliche Körper an den Beinen auf einem Fleischerhaken an einer Leine aufgehängt. Ich traute meinen Augen nicht. Das waren Kaninchen! Das Fell war ihnen einfach über die Ohren gezogen worden. Es baumelte jedenfalls noch an den nach unten hängenden Beinen.
Ich schluckte, ließ entsetzt das Massaker rechts neben mir, ging weiter am großen Apfelbaum vorbei auf dem Schlängelweg durch die Wiese, auf der Leo und Leomutter weideten, zu Hanni und Nanni. Aber die zwei waren nicht mehr da! Ich schlussfolgerte: Die beiden hängen auch auf der Leine und Onkel Jupp ist ihr Mörder!
Onkel Jupp war nämlich Schlachter von Beruf.
Wie es das Schicksal so wollte, starben jedes Mal, wenn mein Onkel Jupp zu Besuch war, immer mehr meiner Freunde, zuerst Tucki, dann Leo und Leomutter.
Der Tod der zwei Schafe ging mir sehr nahe, vor allem weil Leo zutraulich angesprungen kam, wenn ich ihn am Zaun rief, um ihn zu streicheln.
Es gab da nun ein Problem, und zwar ein sehr schwerwiegendes: Ich konnte meine Freunde nicht beerdigen, um ihnen einen würdigen Abschied zu geben und dafür zu sorgen, dass ihre Seelen unversehrt in den Tierhimmel gelangten.
Allen toten Tieren, die ich in meiner Umgebung fand, gab ich nämlich auf meinem Tierfriedhof die allerletzte Ruhestätte. Dieser Friedhof befand sich am Stamme einer alten mächtigen und knorrigen Eiche. Drum herum war ein kleines Pfaffenhütchengestrüpp, das im Herbst, wenn die Früchte rot wurden, tatsächlich so aussah, als hätten winzig kleine Geistliche ihre Hüte ins Blattwerk gehängt.
Die ungefähren Abmessungen des Friedhofs betrugen zunächst einmal 50 x 100 cm. Vergrößern hätte ich ihn immer noch können. Die Abgrenzungen der vier Seiten legte ich aus kleinen Kieselsteinen an. Am Kopfende, das ich gegen Osten ausrichtete, setzte ich einen Findling, der so schwer war, dass ich ihn kaum tragen konnte. Davor stellte ich ein selbst gebasteltes Holzkreuz, das aus zwei ungehobelten Dachlatten mit Strohband zusammengebunden war.
Den Abschluss bildete ein leeres Marmeladenglas, in das ich Wasser füllte und jeweils eine Blume der Saison hineinstellte. Im Frühjahr eine gelbe Narzisse, im Sommer eine Sonnenblume oder eine Rose, im Herbst eine Aster. Im Winter hatte ich nichts Blühendes, nur einen grünen Tannenzweig.
Die ersten Tiere, die ich feierlich bestattete, waren Marienkäfer, Spinnen und andere Insekten. Bald darauf hatte ich Mäuse und, was ziemlich grässlich war, eine Ratte beerdigt. Aber da alle Tiere ein Recht auf eine Beerdigung hatten, durfte selbst die Ratte dorthin.
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Die Menschen in meiner Stadt waren sehr gläubig, deshalb war es selbstverständlich, sonntags in die Kirche zu gehen. Eines Tages begleitete ich meine Oma Käthe, statt, wie sonst üblich, mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester die heilige Messe zu besuchen. Dafür hatte ich 1 DM bekommen, die ich behalten durfte, und 50 Pfennige, die ich den Klingelbeutel tun musste, mit dem Hinweis meiner Oma: »Aber nichts den anderen sagen.«
So war es oft. Sie steckte mir Geld zu, und jedes Mal mit dem beschwörenden Zusatz: »Aber nichts den anderen sagen.«
Ich ging von da an jeden Sonntag mit ihr zur Kirche. Dorthin musste ich so oder so. Da gab es kein Erbarmen.
So hatte ich eine weitere Geldeinnahmequelle für mich entdeckt. Der Nachteil dieser Verdienstmöglichkeit war allerdings, dass ich den Weg zur Kirche gemeinsam mit meiner Oma zu Fuß absolvieren musste, was ungefähr eine viertel Stunde dauerte, da sie nicht mehr die Schnellste war. Noch blöder war, dass wir beide stets die Ersten waren, das heißt, wir waren eine halbe Stunde vor Beginn der Messe in der Kirche, weil meine Oma unbedingt in der ersten Reihe sitzen wollte.
Manchmal kamen wir gemeinsam mit dem Senioren-Taxi an. Dieses Taxi holte alle gebrechlichen, alten Gemeindemitglieder ab und der Fahrer half jeder einzelnen Person in die Kirche.
Ich wünschte mir oft in den für mich unglaublich langweiligen Messen, ich hätte ein Buch aus der Serie Geheimagent Lennet als Miniaturausgabe einfach in mein Gebetbuch legen können, sodass ich es unbemerkt hätte lesen können.
Egal, ob Sommer oder Winter: In der Kirche war es immer kalt. Die Besucher behielten ihre Jacken und Mäntel grundsätzlich an, ich sogar meine Fausthandschuhe, mit denen ich dann auch zur Kommunion nach vorne gegangen war, um mir meine Hostie abzuholen, woraufhin ich bei der nächsten Gelegenheit gleich einen Rüffel vom Pastor bekam, das nächste Mal doch bitte schön meine Handschuhe auszuziehen.
Wenn der mal seine Kirche heizen würde, hatte ich gedacht, dann würde ich das gerne tun, und stellte mir vor, einmal so viel Geld zu besitzen, um in einem richtig warmen Haus zu wohnen und nie wieder frieren zu müssen.
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Bairam wechselte das Thema. »Und Mädels, habt ihr immer noch Bock, Schickimicki-Architektinnen zu werden, schwarze Klamotten und Designeruhren zu tragen und in einem schwarzen Saab vorzufahren?«
»Dass du den Architektenberuf dauernd so schlecht machen musst«, ärgerte sich Marie.
»Ein weiser Mensch sagte einmal, man solle sich beruflich mit dem befassen, was man schon als Kind gerne getan hat. Mit anderen Worten, man solle sein Hobby zum Beruf machen. Denn nur derjenige, der mit Spaß und Leidenschaft bei der Sache ist, wird erfolgreich sein.«
»Meine Interessen waren Malen, Hütten bauen und Gärtnern«, ließ ich verlauten.
»Dann hast du ja die richtige Berufswahl getroffen«, lachte Bairam. »Als Künstler würdest du nichts verdienen, als Gärtner genauso wenig und als Landschaftsarchitekt kriegst du keine Stelle. Architektin, das ist es: Hütten bauen und Pläne malen.«
»Ja, stimmt«, entgegnete ich, »aber das dauert ja noch ewig, bis wir mit unserem Studium fertig sind. Man muss vorher irgendwie zu Geld kommen.«
»Genau«, sagte Bairam, »unsere zukünftigen Arbeitgeber sollten uns am besten während des Studiums das Gehalt auszahlen. Jetzt hätten wir zumindest was davon. Später, wenn man arbeitet, hat man überhaupt keine Zeit mehr, das Geld auszugeben.«
Marie und ich ignorierten seinen überflüssigen Kommentar.
»Zählt als Interesse vielleicht auch, was man als Jugendliche gerne gemacht hat?«, fragte ich.
»Durchaus, ich denke, man kann das ruhig ein bisschen gröber sehen«, räumte Marie ein. »Was hast du denn gerne gemacht?«
»Ich bin unheimlich gerne Bier trinken gegangen.«
Marie antwortete: »Daran hat sich bis heute ja nicht viel geändert, außerdem ist das kein Beruf.«
»Ja«, gab ich zu, »das weiß ich, trotzdem, es gibt da noch andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Denk mal nach«, fuhr ich fort. »Wenn du zu viel Bier trinkst, was hast du dann am nächsten Morgen?«
»Einen Kater«, meinte Bairam.
»Ja, genau, irrsinnige Kopfschmerzen«, ergänzte ich. »Und um diese Nebenwirkungen ein für alle Mal zu beseitigen, muss ein Bier gebraut werden, das schon die Zutaten enthält, die gar nicht erst die Kopfschmerzen auftreten lassen.«
»Sehr witzig«, lachte Marie. »Du willst gleich eine Aspirin in die Flasche werfen.«
»Nein, so nicht«, erwiderte ich. »Das heißt ja nur, dass die Auswirkungen bekämpft werden, aber nicht die Ursachen. Dazu muss man nämlich wissen, was der Alkohol in unserem Körper anstellt, damit wir Kopfschmerzen bekommen.
Alkohol entzieht dem Körper die Vitamine C, B1 und die Mineralien Kalzium und Magnesium. Zusätzlich muss die Leber einige Überstunden schieben. Um jetzt keine Vitaminpillen ins Bier zu kippen, kann man kurzerhand ein Naturprodukt herstellen: Bier + Sanddornfrüchte + Mariendistelsamen.«
Marie und Bairam guckten ungläubig.
»Na, ganz simpel, ich erkläre es euch: Sanddorn hat alle vier Stoffe, die dem Körper entzogen werden und Mariendistelsamen kurbeln die Lebertätigkeit und die Leberzellenneubildung an. Das ist es: Ich werde das erste Patent für kopfschmerzenfreies Bier auf der Welt anmelden.«
Marie verdrehte die Augen. »Klärchen, du tickst nicht mehr ganz richtig.«
Mittlerweile hatte ich bereits meine vierte Flasche Schultheiß intus und war der Meinung, eine großartige Erfindung gemacht zu haben.