Klaus Uhlenbrock
Unter den Eichen
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Als sie fertig war, warf sie einen Blick zum Zelt. Ihr Freund war noch damit beschäftigt, sich anzuziehen. Durch die dünne Stoffwand war seine Silhouette zu erkennen, da im Inneren des Zeltes eine der Petroleumlampen brannte. Lächelnd erinnerte sie sich an die kurze, stürmische Liebesnacht mit ihm. Heiner war lieb und sehr zärtlich gewesen. Sie hatten es beide genossen, keine Frage.
Ein Gefühl der Geborgenheit beschlich sie, aber das Gefühl hielt nur einen Moment an.
Etwas Helles bewegte sich hinter den Eichen, von denen Yvonne keine zehn Schritte entfernt stand. Die Bäume waren in einem weiten Kreis gewachsen, und seitdem sie von Professor Hardenberg erfahren hatte, daß mehrere Erdstrahlen unter ihren Wurzeln in der Mitte des Kreises zusammenkamen, war ihr die Gruppe der hochragenden Bäume unheimlich geworden. Besonders in Nächten wie dieser hier, in der Nebelschwaden wie Wattebäusche keinen Meter über dem Boden schwebten und lautlos Eulen durch die undeutliche Helligkeit des Mondlichtes huschten; in denen die Legenden und Spukgeschichten, die sie inzwischen aus den Mündern einiger Einheimischer kannte, plötzlich vor ihrem geistigen Auge zu realen Gebilden wurden, zu einem mystischen Traum, einem Spiel ihrer Phantasie mit unbeweglichen Steinen und Zweigen, die sich in rätselhafte Figuren zu verwandeln schienen. Der Ort hatte etwas Magisches an sich. So etwas kannte sie bislang nur aus dem dichten Nebel von Irland. Die Grabanlage, auf der sie sich befand und bei deren Freilegung sie mithalf, gehörte ohne Zweifel zu jenen Orten, an denen sie ein Gefühl von Mystik befiel, das sie einerseits anzog und andererseits vor Schreck erstarren ließ.
Yvonne atmete tief durch. Gut, daß ihr Freund in der Nähe war. Nicht allein an solch einem Ort zu sein, beruhigte sie. Leise ein Lied vor sich hinsummend, wuchtete sie die schwere Kiste vom Tisch herunter.
"Das kann ich doch machen", sprach jemand hinter ihr.
Sie schrie auf, und vor Schreck ließ sie die Aluminiumkiste fallen. Heiner legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter.
"Alles in Ordnung?" fragte er vorsichtig, als er merkte, daß er ihr einen höllischen Schrecken eingejagt hatte.
Sie nickte und versuchte, ihre Emotionen wieder in den Griff zu bekommen.
"Ja", hauchte sie nach einer Weile. Wie um sich zu verteidigen, puffte sie ihm in die Rippen. "Du hast mir einen Schrecken eingejagt! Mußt du dich denn auch so leise anschleichen?"
"Tschuldigung, das wollte ich nicht."
Sie schüttelte den Kopf und schob die Kiste mit den Füßen gerade. Als sie in sein Gesicht sah, glitt ein eisiger Schauer über ihren Rücken. Erstarrt riß sie die Augen auf.
"Was ist denn mit dir los?" Heiner packte ihre Schultern und zwang sie in seine Welt zurück.
Nach einigen Sekunden antwortete sie: "Hast du eben auch dieses Licht dort an den Eichen gesehen? Mitten im Kreis?"
Heiner blickte hinter sich. Da standen die Eichen, wie er sie schon seit seiner Kindheit her kannte. Unter ihren Blättern hatte er oft mit seinem großen Bruder gespielt.
"Was für ein Licht?"
"Ich weiß nicht", stotterte Yvonne. Sie zitterte, trotz der noch hohen Lufttemperatur. "Es war leuchtend grün und schien an einem der Bäume hochzukriechen."
Der Bauernsohn versuchte das beschriebene Licht zu finden, aber er sah nichts, außer den dicken Bäumen, die still und unbeweglich ihre dichten Kronen in den schwarzen Nachthimmel reckten. Er schüttelte den Kopf.
"Da ist nichts, Yvonne. Du mußt dir das eingebildet haben." Er blickte ihr ins Gesicht. "Vielleicht sollte ich dir keine Schauermärchen mehr über diesen Ort erzählen. Das bekommt deinem Kopf nicht, wie mir scheint. Ich denke..."
Sie stieß ihn erbost von sich. "Ich habe mir das nicht eingebildet! Da war ein Licht. Und es ist an dem Baum da vorne hochgekrochen! Das hat mit deinen bescheuerten Märchen nichts zu tun!"
"Okay, okay." Heiner hob beschwichtigend beide Hände. "Ich seh mir die Sache mal an. Warte hier auf mich, ich hol mir nur eben die Petroleumlampe aus dem Zelt."
Als er sich umdrehen wollte, packte sie seinen Arm. "Warte", sprach sie leise. "Ich komme mit."
Heiner zuckte die Schultern und stapfte hinüber zum Zelt. Dann wanderten beide zum Eichenkreis.
"An welchem der Bäume hast du das Licht gesehen?" fragte er Yvonne.
Sie zeigte, noch immer zähneklappernd, auf eine der Eichen. Heiner hob die Lampe hoch. Vorsichtig lief er weiter. Die Angst seiner Freundin war deutlich zu spüren, fand er. Fast meinte er sogar, sie riechen zu können, als er stehenblieb.
"Riechst du das?" Heiner schnüffelte wie ein Hund. Sie standen inmitten des Kreises, und Yvonne schob ihren Körper dichter an ihren Freund heran.
"Was soll ich riechen?" fragte sie aufgeregt.
"Es riecht genauso wie damals, als ich mal bei einem Gewitter mit meinem Bruder hier gewesen bin, um mich vor dem Regen unterzustellen. Das muß Jahre her sein, aber der Geruch ist mir nie aus der Nase gegangen."
Yvonne fing noch mehr an zu zittern. Ihre Stimme klang fast kläglich. "Heiner, willst du mich noch mehr erschrecken?"
Als er sich zu ihr umdrehte, streiften mehrere Grashalme ihre nackten Beine. Sie schrie erneut verschreckt auf.
"Yvonne!" zischte er sie an. "Reiß dich zusammen! Das Gras steht nun mal so hoch, daran könnt ihr Archäologen auch nichts machen. Vielleicht solltet ihr hier an dieser Stelle graben, damit das hohe Gras verschwindet. Wie wär’s mit einem Gärtner in eurer Gruppe. Wenn du so weitermachst, dann kannst du allein bis zur Eiche gehen."
"Ich hör ja schon auf." Sie versuchte sich zu beruhigen und klammerte sich nur fest an seinen Arm.
"Gut, dann komm."
Still gingen sie weiter und erreichten den Baum, an dem Yvonne meinte, jenes grünliche Licht gesehen zu haben, das sie zweimal so erschreckt hatte. Sie wies mit einem Finger auf die Stelle an der Rinde, während Heiner die Lampe hochhielt. Tatsächlich war eine seltsame schwarze Spur auf der Rinde zu erkennen, die er sich nicht erklären konnte. Er betastete sie und roch dann an seinem Finger.
"Seltsam", sagte er und runzelte die Stirn. "Das riecht verbrannt. Als hätte jemand die Rinde angekokelt."
"Siehst du", gab Yvonne von sich.
"Wer sollte denn so was machen?" fragte er abweisend und hielt die Lampe erneut so, daß er sich die Spur anschauen konnte.
Sie schwieg derweil und behielt ihre mystisch verklärten Gedanken für sich.
"Mein Gott!" fluchte da ihr Freund. "Wenn ich den erwische! Das hat mit einem Scherz nichts mehr zu tun! Die Dinger hier stehen unter Naturschutz. Die kokelt man nicht einfach so an!"
"Und wenn es nun gar keine Person gemacht hat?" fragte Yvonne zaghaft. Für einen Augenblick schwieg Heiner, als müßte er ihre Worte erst verarbeiten. Dann drehte er den Kopf in ihre Richtung.
"Weißt du, was du da gerade gesagt hast?" fragte er, und sein Blick verriet ihr, daß er nicht mehr wußte, ob er sie für verrückt halten sollte. Sie errötete und schwieg, aber damit gab er sich nicht zufrieden. Er stieß ihre Hände von seinem Arm.
"Wofür hältst du denn diese Brandspur? Will uns einer dieser Toten aus euren Gräbern vertreiben?" Sein sarkastischer Unterton war nicht zu überhören. "Seitdem wir uns kennen, hast du dich sehr verändert. Dieser mystische Quatsch von Hexenspuk und Feen geht dir wohl nicht mehr aus dem Kopf, was?"
Sie wollte etwas erwidern, aber sie ersparte sich einen Kommentar.
Da packte er sie an den Armen und versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden Beigeschmack zu geben.
"Yvonne, es gibt keine Geister, und Hexen sind in dieser Gegend sicher auch nicht gewesen. Mag sein, daß wir auf einem Gräberfeld stehen, irgend so ein Friedhof aus der Eisenzeit. Aber die Typen unter uns sind tot, und das schon seit mindestens tausend Jahren, wenn ich Hardenberg richtig verstanden habe. Du bist der Archäologe, du kennst dich mit diesen Dingen besser aus als ich. Aber irgendwie scheint es mir so, als wärst du dieser Aufgabe nicht gewachsen. Du läßt dich viel zu sehr von alten Sagen und Überlieferungen leiten, die in unsere Welt nicht mehr hineinpassen. Damit kann man kleine Kinder erschrecken, aber normal denkende Freaks unserer Generation? Mann, Yvonne, dir geht die Phantasie durch. Spar sie dir, bis ihr hier fertig seid. Wenn ihr all die kleinen Keramikteilchen und Knochen später mal zusammenfügt, dann brauchst du deinen Grips und deine Vorstellungskraft."
Seine harten Worte gefielen ihr gar nicht. Er klang wie ihre Eltern, die sie immer schon belehrt hatten. Sie haßte es. Vor allem, wenn Überheblichkeit aus solchen Vorträgen triefte.
Diesmal riß sie seine Hände von ihren Armen. Funkelnd starrte sie ihn an und strich sich wütend eine Haarlocke aus dem Gesicht.
"Ich weiß, was ich gesehen habe!" zischte sie. "Da war ein Licht, und diese Scheißspur da spricht ja wohl dafür, daß ich mich nicht geirrt habe. Das hat mit mystischem Quatsch und durchgedrehter Phantasie nichts zu tun. Ich suche nur nach einem plausiblen Grund, der das, was ich gesehen habe, erklären kann. Ich glaube weder an UFOs noch an irgendwelche Geister, die aus ihren Gräbern aufsteigen. Also quatsch mich nicht so an, als sei ich verrückt! Ist das klar?"
Heiner lachte und wollte sie in den Arm nehmen, doch sie wies ihn von sich.
"Komm mir nicht so!" fuhr sie fort und verschränkte die Arme. "Ich bin echt sauer!"
"He!" Lächelnd wiederholte er seine Bemühungen, sie in den Arm zu nehmen. "War doch nicht so gemeint. Natürlich bist du nicht verrückt, und wenn du sagst, daß da ein Licht war, dann suchen wir jetzt nach der Ursache, okay?"
Yvonnes Wutausbruch verließ sie ebenso rasch, wie er gekommen war.
"Also gut", sagte sie. "Aber ich bin dafür, wir machen das morgen. Irgendwie ist mir heute nicht mehr danach."
"Hast recht." Er nickte. "Ich finde auch, wir sollten uns jetzt hinlegen."
Erbost fuhr sie hoch. "Ich will mich nicht hinlegen, ich fahr jetzt nach Münster und geb die Kiste mit den Fundstücken ab! Hast du verstanden?!"
In diesem Augenblick klang der langgezogene Ruf eines Käuzchens aus einer der Eichen. Beide fuhren erschrocken zusammen. Heiner nahm eine Hand von Yvonne und führte sie hinaus aus dem Eichenkreis. Erst als sie wieder am Tisch angelangt waren, ließ er sie los.