Peter Weidlich

Gefangen im Fadenkreuz der Justiz






ZWANGHAFT


»Das Waschbecken sieht katastrophal aus, Herr Wiegand!«

Mit einem harten, fast feindseligen, dunklen, kurz aus der Kehle gepressten Ton bestrafte er meine Nachlässigkeit. Erschrocken erhob ich mich aus der Hocke in die Senkrechte, was mir ziemlich schwerfiel, weil ich einfach zu fett war.

Diese Stimme kannte ich bereits, denn es war mein dritter Tag hinter Gittern. Sie gehörte einem der älteren Beamten, die schon jahrelang in Gröblingen ihren Dienst versahen. Bei diesem Beamten war mir aufgefallen, dass er, wenn er Nachtdienst hatte, seinen Schlafanzug, der farblich und stofflich einem Trainingsanzug glich, auf ganze dreißig Zentimeter zusammenfaltete und ihn akkurat auf die Mitte des Stuhls neben dem Bereitschaftsbett legte. Unter dem Stuhl standen seine Turnschuhe, dicht nebeneinander, parallel; in ihnen steckte jeweils ein in sich aufgerollter weißer Socken.

Als ich Volker und Matjes das erzählte, weil ich den Ordnungssinn zwar etwas übertrieben, aber ansonsten völlig okay fand, meinte Volker: »Der muss bei der Bundeswehr gewesen sein!«

»Zwanghaft!«, stichelte Matjes. »Das ist der Froning, ‘n gefährlicher Arsch!«

»Ich sehe nach, was mit dem Waschbecken nicht in Ordnung ist«, beeilte ich mich zu sagen und verschwand aus dem Büro, ging um die Ecke, eilte den kleinen Flur entlang, betrat rechter Hand das Bereitschaftszimmer und landete wieder rechts im Duschraum. Ich begutachtete das Waschbecken. Es war sauber, auch am Wasserkran und am Ablauf. Keine Haare am Stöpsel. Keine Kalkablagerungen.

Was will er von mir, fragte ich mich. Will er mich >abschießen<?

Mein Blutdruck stieg. Die Angst kroch in mir hoch, denn ich hatte gehört, man würde beim kleinsten Fehler >abgeschossen<. Das bedeutete, dass man nach Münster gebracht wurde, oder nach Bielefeld-Brackwede, in eine geschlossene Anstalt, im Gegensatz zu diesem sogenannten >offenen Vollzug<.

In die Geschlossene auf keinen Fall, dachte ich und versuchte das beklemmende Gefühl der Angst, das Brust und Lunge umspannte, hinunterzuwürgen. Mir ging es nicht mehr um die Frage, was richtig, gerecht oder einschleimend war. Mir ging es nur darum, alles so zu machen, dass es den Beamten gefiel. Ich traute mich noch nicht einmal, sie in Gedanken >Schließer< zu nennen oder irgendeine ihrer Verhaltensweisen zu kritisieren, nach allem, was ich bereits am ersten Tag in Gefangenschaft über die Schließer in den geschlossenen Gefängnissen gehört hatte.

Ich ging zurück in das Büro, nicht zu schnell, um meine Unterwürfigkeit und Angst nicht zu offenbaren, blieb hinter dem Beamten stehen und fragte: »Herr Froning, was ist an dem Waschbecken nicht in Ordnung? Ich möchte nichts falsch machen!«

»Das glänzt nicht!«

»Und wie kann ich es glänzend bekommen?«, fragte ich vorsichtig.

»Nehmen Sie Ata!«, bellte die Stimme zurück.

Ata, dachte ich, mit Ata wird es noch stumpfer und matter. Will er mich auf den Arm nehmen? Man hatte mich ja schon vor ihm gewarnt.

»Eiskalt ist der, den kannste nicht einordnen. Sei bloß vorsichtig!«, hatte Matjes mir gesteckt. Matjes, dem sie die Arbeit als Hausarbeiter weggenommen und ihn wieder in die Maschinenfabrik geschickt hatten. Ich war sein Nachfolger, was er mir anscheinend nicht verübelte, denn er hatte mich gewarnt: »Machste einen Fehler, hauen se dir einen rein, so wie mir. Ich hab keine Ahnung, warum ich jetzt in der Scheißfabrik malochen muss. Die sind eben so, richtige Schließerärsche, die machen, was sie wollen. Pass auf, dass sie dir keinen reinwürgen. Ich kann ein Lied davon singen. Sie verstehen alles und dann kriegste doch ‘nen Gelben. Nach zwei Gelben biste weg! Wie bei der Bärlauch, so ‘n blondes, geiles Gift, die hat’s besonders drauf!«

Herr Froning drehte sich zu mir herum und funkelte mich an. Ich blickte ihm bewusst in die Augen, hoffend, meine Verwunderung und Gedanken und Angst nicht verraten zu haben. Wortlos drehte ich mich um und verschwand erneut im Badezimmer der Beamten. Ich polierte das Becken mit einem Geschirrtuch, das ich im Putzschrank gefunden hatte, polierte und polierte - natürlich ohne Ata, dafür mit Duschgel -, und glaubte schließlich selbst, dass es nun wirklich glänzen würde.

»Jetzt glänzt es«, teilte ich Herrn Froning mit.

»Warum nicht gleich so? Haben wohl noch nie so richtig putzen müssen?« Er grinste, schadenfroh lauernd, meine Reaktion überprüfend. »Wird also höchste Zeit!«

Ich ahnte, was er dachte: Der dicke Wiegand hat als Heimleiter nie putzen müssen, hatte seine Leute dafür. Heute muss er seinen Hintern selbst bewegen, gut für seinen Bauch. Außerdem merkt er endlich, wie es ist, anderer Leute Dreck wegzumachen!

»Übrigens, am Türrahmen draußen tummeln sich die Spinnen! Weg mit ihnen!«, vernahm ich diese aggressiv gefärbte Stimme, die deutlich machte, wer hier das Sagen hatte und wer einfach nur gehorchen musste. Wer der Gute war und wer der Schlechte.

Man hatte mich vom ersten Tag meiner Arbeit als Hausarbeiter gewarnt, auf keinen Fall Spinnen und Spinnweben zu übersehen.

»Die haben bestimmt ‘ne Spinnenphobie«, lästerte Matjes.

Ihn hatte man übrigens abgesägt, das konnte Manni mir berichten, weil er aufgeschlagene Akten eingesehen hatte und es nicht unterlassen konnte, heimlich mitzuverfolgen, was sich die Beamten auf den Bildschirmen ihrer PCs ansahen. Zudem brachte er Unruhe in die Mannschaft der Mitgefangenen, indem er irgendetwas Wildes behauptete, zum Beispiel, dass einer der Inhaftierten >abgeschossen< werden würde. »Ist ein Beschluss der Konferenz!« Wenn derjenige dann blass wurde vor Angst, lachte er sich kaputt. Deswegen wurde er von den meisten Gefangenen gehasst. Bis auf Rainhard.