Thomas Wendt

Zu anderen Ufern


6.

Auch am nächsten Morgen musterte ihn Rob Barlow wieder eingehend und grinste, ohne jedoch etwas zu sagen. Es gab auch nichts zu sagen. Marc strahlte das pure Glück aus, und seinem Mitarbeiter waren die Zusammenhänge klar, und Marc ahnte das auch, ohne daß es ihm etwas ausmachte. Er war in Gedanken so weit weg, bei Luis, neben dem er an diesem Morgen mit voller Absicht aufgewacht war; neben dem er jetzt immer aufwachen würde.

Die Einzelheiten des letzten Abends hatten sich derart in Marcs Bewußtsein eingebrannt, daß er sie beliebig oft und in erstaunlicher Exaktheit vor seinem inneren Auge abspielen konnte und Rob ihn mehrmals förmlich in die Gegenwart zurückreißen mußte, und schließlich besann der junge Deutsche sich und konzentrierte sich auf die reichliche Arbeit, die er allerdings mit ungeahnter Vitalität spielend bewältigte. Einmal wieder zur Besinnung gekommen, sprudelte er regelrecht über vor Einfällen, und Rob und die anderen ließen sich von diesem Strudel der Kreativität gerne mitreißen.

Dabei wollte Marc eigentlich nur möglichst viel in möglichst kurzer Zeit schaffen, um früh Feierabend machen und nach Hause zu Luis fahren zu können.

Aber dann hatte er eine Idee ganz privater Natur und beschloß, vor der Fahrt ins Village noch etwas zu erledigen, was schon lange hätte erledigt werden müssen...

Es dauerte einen Moment, aber schließlich fand er zwei Blocks von Holmans Gallery entfernt einen Parkplatz. Den kurzen Fußweg nutzte er für eine Zigarette und eine kurze Überlegung, was er eigentlich sagen wollte. Aber es würde sich schon irgendwie ergeben, und womöglich war der bekannte Designer auch gar nicht anwesend.

Er war es, und als Marc die Galerie betrat, trafen sich sofort ihre Blicke. André Rossmann, ein wenig verrückt im Stil moderner Künstler gekleidet, ließ einen Gesprächspartner mit einer flüchtigen Entschuldigung stehen und kam auf ihn zu. Ein Kreis, der viele Jahre umfaßte, schien sich zu schließen.

"Marc! Auf diesen Augenblick habe ich so lange gewartet!" rief André, offensichtlich überglücklich, aus. Ein paar Gäste, die sich in der Galerie aufhielten, schauten sich neugierig um, wen der Künstler da begrüßte.

"Du... du konntest doch gar nicht wissen, daß ich komme." Marc war etwas verwirrt.

"Doch, das konnte ich. Hallo, erst einmal." André zögerte nicht, seinen alten Studienkameraden zu umarmen. "Gut siehst du aus."

"Hallo, André. Danke, du auch. Ja, hier bin ich also", erwiderte Marc die Begrüßung, aber alles, was er sonst noch sagen wollte, war wie ausradiert. "Ich habe von deiner Ausstellung hier in New York gelesen, und da ich auch gerade hier bin..."

"Ich weiß", meinte André lächelnd. "Der erfolgreiche deutsche Werbeprofi arbeitet jetzt im ,Tower’."

"Und woher weißt du das nun wieder?"

"Na ja, wie gesagt, einen gewissen Namen hast du dir auch gemacht, gerade mit deiner Anstellung bei Beautylogic. Komm, sieh dir meine kleinen Schätze an." Er nahm Marc beim Arm und führte ihn durch die kleine, aber exklusive Galerie. "Außerdem habe ich Freunde, und die haben Freunde, und die berichteten von einem süßen Deutschen, der jetzt mit einem Werbetexter aus Greenwich Village zusammen ist."

"Ja, Luis..." Marc war entsetzt, was André alles wußte, aber das erleichterte ihm auf der anderen Seite auch wieder das, was er seinem Landsmann sagen wollte.

"Wie gefällt dir dies hier?" wollte André wissen, der vor einer Statue stehengeblieben war, die aussah, als wäre sie infolge von Hitzeeinwirkung etwas zusammengeschmolzen. "Ich nenne es ,Kochende Leidenschaft’."

"Sehr... interessant", antwortete Marc vorsichtig.

"Du kleiner Lügner." André lachte. "Ich kenne deine Arbeiten. Das ist gar nicht dein Stil, und du findest es scheußlich, stimmt’s?"

"Du scheinst mich irgendwie die ganzen Jahre beobachtet zu haben", meinte Marc .

"Nun ja, unsere Betätigungsfelder liegen nicht so weit auseinander, und ich sehe mir immer gerne mal an, was die Konkurrenz gerade macht, wenn sie gut ist. Und du bist gut."

"Danke." Marc fühlte sich sehr geschmeichelt.

"Bitte. Wie findest du das hier?"

Marc betrachtete das nächste Kunstwerk nur kurz, um dann zu sagen: "André, weswegen ich hergekommen bin..."

"...mußt du mir nicht sagen, denn ich weiß auch das."

"Dann sage mir mal, was du nicht weißt", verlangte Marc ein wenig entnervt.

"Warum du jetzt erst kommst", meinte der Künstler. "Denn daß du eines Tages wieder vor mir stehen würdest, wußte ich. Aber du mußtest wohl erst zu deinen wahren Werten finden, wie?" Er grinste anzüglich.

"Wir haben uns ja mal gesehen...", wies Marc ihn drauf hin.

"Auf dieser Party, auf der du mit dieser dummen Ziege aufgekreuzt bist. Ich erinnere mich."

"Das war meine Frau", bemerkte Marc trocken.

"Schlimm genug. Aber mir scheint, daß du diese Verirrung mittlerweile überwunden hast - mit deinem Luis."

"Wir sind sehr glücklich", antwortete Marc wie auf Kommando und wunderte sich selbst darüber. Aber es stimmte doch.

"Das freut mich wirklich sehr, denn mir lag dein Wohl mehr am Herzen, als du glaubst. Es gab Zeiten, da hätte ich dich gerne glücklich gemacht." André seufzte theatralisch. "Und erst in künstlerischer Hinsicht! Was für ein Gespann hätten wir werden können!"

"Nein, das wohl nicht", wehrte Marc ab. "Du sagst doch selbst, daß ich einen ganz anderen Stil habe."

"Dieser Gegensatz wäre unser Erfolgsgeheimnis gewesen." Der Künstler setzte eine diabolische Grimasse auf.

"Wenn du meinst."

"Mr. Rossmann?" Ein Mann, dem scheinbar die Galerie gehörte, unterbrach sie. "Entschuldigen Sie, aber Lady Wentworth wartet."

"Oh ja, ich eile!" André sah entsetzt auf seine Uhr. "Das kommt nur davon, weil ich zu faul bin, die Ortszeit einzustellen."

"Geh nur", meinte Marc. "Wir können uns morgen noch sehen. Vielleicht bei einem Essen?"

"Ich fliege morgen nach Hamburg zurück, Marc. Aber wir werden uns bestimmt wiedersehen. Nur warte diesmal nicht so lange, hörst du?"

"Versprochen."

André eilte mit großen Schritten auf eine alte Dame zu, wohl eben jene Lady Wentworth, die offensichtlich sehr daran interessiert war, ein bis zehn Kunstwerke für ihre fünf Häuser zu kaufen. Marc dagegen verließ die Galerie mit einem Gefühl größter Zufriedenheit. Es war schön, wenn man etwas erledigt hatte, das schon lange hätte erledigt werden müssen. Um so mehr konnte er sich jetzt auf Luis freuen.

Gerade an diesem Tag erschien ihm der spätnach-mittagliche Feierabendverkehr besonders dicht, die Anzahl der Unfälle unterwegs besonders hoch und die Zeit, bis er endlich bei seinem Luis war, besonders lang. An diesem Abend brauchte der seinen Untermieter nicht lange bitten, zu ihm ins Bett zu kommen.