Gabriele Wiggen-Jux

Ein Todesfall und andere Missgeschicke

Als ob das tagtägliches Ritual sei, lümmelte Wolf breitbeinig in einem der Wohnzimmersessel, einen Arm lässig über die Rücklehne gelegt. Sowie er einen Moment mit seinem Redeschwall innehielt und dabei taxierend das Wohnungsinventar in Augenschein nahm, nutzte Imogen die Gelegenheit und lief aus dem Raum, um ihm ein Handtuch zum Schweißabwischen zu holen. Das Tuch hatte sie ihm eigentlich bereits kurz nach seiner Ankunft geben wollen.

Ich folgte ihr. Der Gedanke, allein mit dem Kerl zu sein, behagte mir nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen, zu bleiben. Vermutlich ist es anmaßend, zu glauben, meine Präsenz im Wohnzimmer hätte irgendetwas am Gang der folgenden Ereignisse geändert. Katzen haben auf viele Dinge der Menschen leider, leider nur sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten. Hätte Imogen darauf verzichtet, das Handtuch aus dem Wäscheschrank im Obergeschoss zu holen, sondern wäre sie einfach im Wohnzimmer geblieben, hätte die triviale Unterhaltung der beiden vermutlich noch ein wenig fortgedauert, sich nach einer Weile im Nichts verloren und dann in Wolfs Abzug gemündet. Doch das sind alles Spekulationen, die zu nichts führen. Denn es geschah, was keiner vorher ahnen konnte, zumindest nicht Imogen und ich. Als sie mit dem Handtuch in der Hand und mir im Gefolge in das Wohnzimmer zurückkehrte, saß Wolf nicht mehr im Sessel, sondern hatte sich splitterfasernackt ausgezogen. Er lag bäuchlings auf dem Boden, den Kopf stützte er auf beide Arme auf und warf Imogen einen unterernährten, schmachtenden Blick zu. Zunächst blickte er sie nur stumm, irgendwie hilfsbedürftig an, dann murmelte er etwas von einer Muskelverspannung, die er lockern wollte. Imogen, von diesem gänzlich unerwarteten Anblick völlig überrumpelt, ja geradezu kalt erwischt, bewahrte sichtlich bemüht Haltung und Fassung. Sie reichte dem lüstern blickenden Typ am lang ausgestreckten Arm das Handtuch mit der Bemerkung, er möge sich bitte etwas anziehen, so gehe das nicht. Da packte der Bursche sie am Handgelenk, zerrte sie zu sich herunter auf den Boden und versuchte, ihr mit einem Ruck die Bluse vom Körper zu reißen.

Nach dem ersten Überraschungsmoment, in dem Wolf sie gierig und lustvoll befingerte und die schreckgeweiteten Augen Imogens für einen Augenblick den ganzen Raum zu füllen schienen, griff sie hinter sich, dorthin, wo der schwere gusseiserne Kerzenständer stand, holte aus und zog ihm mit der Kraft der Verzweiflung den Ständer über den Schädel. Nach einem menschlichen Aufjaulen und schrillem Klirren war es plötzlich mucksmäuschenstill. Kein Laut war zu hören. Eine Schrecksekunde später, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam, sprang Imogen wie elektrisiert hoch, sie war kreideweiß im Gesicht und zitterte am ganzen Körper. Wie versteinert stand sie da und blickte fassungslos zu Wolf, der mit merkwürdig verzwirbelten käseweißen Armen und Beinen rücklings auf dem Boden lag und sich nicht rührte. An seiner Schläfe prangte ein großer dunkler Fleck.

Sie beobachtete ihn ängstlich, anscheinend rechnete sie damit, dass er jeden Moment hochsprang und erneut über sie herfiel. Doch Wolf bewegte sich nicht. Unsägliche Anspannung und Schreckstarre standen förmlich im Raum. Die Zeit schien buchstäblich stillzustehen. Ich habe Derartiges noch nie erlebt. Tatsächlich zittere ich nach wie vor, wenn ich an jene schreckliche Szene denke. Meine arme Imogen. Das hatte sie von ihrer Gutmütigkeit. Und es kam noch schlimmer.

Hätte sie nicht so schockiert ausgesehen, wäre ich auf der Stelle zu ihr gesprungen, um ihr zum errungenen Sieg über den Eindringling zu gratulieren. Merkwürdigerweise war die Lage nun alles andere als geklärt, im Gegenteil, nun wurde es richtig verzwickt. Zitternd beugte sich Imogen vor und legte dem nackten Wolf ihre Finger seitlich an den Hals. Das brachte jedoch keine sichtbare Entspannung. Mit bleichem Gesicht und auf wackligen Beinen hangelte sie nach der Lehne des nächststehenden Sessels, setzte sich schwer atmend auf ihm nieder und ließ den nackten Leichnam dabei nicht aus den Augen. So sichtlich war sie aus der Fassung, dass ich höchst beunruhigt war. Schnurrend strich ich um ihre Beine, aber sie nahm mich nicht wahr.

Mit zusammengesacktem Oberkörper kauerte sie auf dem Sessel und atmete bald ein paar Mal bewusst tief ein und aus. Was sollte das nun wieder? Ich verstand ihre Aufregung nicht. Schließlich hatte sie einen riesigen Gegner bezwungen, ihm allem Anschein nach endgültig den Garaus gemacht. Im Grunde musste sie stolz sein. Im Katzenreich kommt es äußerst selten vor, dass Kämpfe untereinander tödlich enden. Da muss mal ein Auge dran glauben, Fellbüschel fliegen oder ein Ohr wird zerfetzt, damit hat es sich auch schon. Meistens hat der Schwächere ein Einsehen und gibt klein bei, bevor es zum Schlimmsten kommt. Doch schwante mir Imogens Problem. Menschen tragen ihre Meinungsverschiedenheiten meist mit weniger körperlichem Einsatz aus als Katzen. Insofern war der reglos am Boden liegende Wolf ein ungewöhnlicher - um nicht zu sagen, völlig neuer -, aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen ungekannter Anblick. Nicht nur für mich, sondern besonders für Imogen, die für Wolfs Zustand verantwortlich zeichnete und dadurch besonders betroffen war. Er rührte sich nicht, kein bisschen. Das schockierte sie sichtlich. Auf ihrem Sessel sitzend stupste sie ihn bald sachte mit der Fußspitze an. Er reagierte nicht, gab kein Lebenszeichen von sich. Dumm gelaufen und leider nicht mehr zu ändern, sagte ich mir. Was hätte sie in ihrer bedrängten Lage anderes tun können, als sich ihrer Haut zu erwehren? Gute Worte helfen nicht weiter, wenn jemand handgreiflich wird und über einen herfällt. Insofern hatte sie aus reiner Notwehr gehandelt. Bis hierhin war alles klar und eindeutig. Der ungebetene Gast war zudringlich geworden und sie hatte sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gewehrt - erfolgreich gewehrt, wie man sah.

Ich fand, sie könnte jetzt jemanden rufen, der ihr bei Wolfs Abtransport half, nachdem klar war, dass er es selbst nicht mehr über die Türschwelle schaffte. Zu meiner Verblüffung rührte sich Imogen nicht von der Stelle. Wie festgewachsen hockte sie auf ihrem Sessel und fixierte die nackte Leiche mit irrem Blick.