Frank Zumbrock

Die Rückkehr des gefallenen Engels

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Kurz nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg ins Dorf. Der Sarg stand auf unserem Schlitten, den Lechtinger lenkte. Ich hatte den Eindruck, als würde er sich über meine Auseinandersetzung mit dem Alten freuen.

Als wir dann durch Riedberg fuhren, war kein Mensch zu sehen. Wir steuerten die kleine Kirche an, wo sich unmittelbar daneben die Leichenhalle befand. Der Geistliche musste die Schlittenglocken gehört haben, denn er erwartete uns bereits. Ich sprang vom Schlitten und eilte auf den Priester zu.

»Guten Morgen, Euer Hochwürden!«

»Guten Morgen, Herr von Grollendorf! Wie ich sehe, haben Sie den Toten nach Riedberg überführt. Ich werde Sie nachher begleiten, wenn Sie seinen Eltern die schreckliche Nachricht überbringen.«

Er muss meine Gedanken gelesen haben, dachte ich. Der Sarg blieb auch in der Einsegnungshalle verschlossen. Niemand sollte den schrecklich verstümmelten Leichnam zu Gesicht bekommen. Die Eltern würden dabei das größte Problem sein. Sie würden wahrscheinlich darauf bestehen, ihren geliebten Sohn zu sehen. Wir mussten sie auf jeden Fall davon abhalten.

Ich konnte es nicht verhindern, dass meine Augen feucht wurden, als wir den Eltern die Nachricht vom Tod ihres Sohnes überbrachten. Sepp war nicht mitgekommen. Er wollte sich mit irgendwelchen Auswertungen beschäftigen. Ich wusste, dass es nur eine Ausrede war. Der alte Vater schien vom Schicksal geprügelt zu sein, denn er hatte erst vor Kurzem seine Tochter verloren und nun seinen Sohn. Meine Beine zitterten, als wir die armselige Hütte verließen.

»Haben Sie schon oft Todesnachrichten überbracht?«

Die Frage des Geistlichen traf mich wie ein Blitz. Wenn ich ganz ehrlich sein sollte, dann musste ich zugeben, dass ich mich vor dieser schwierigen Aufgabe immer gedrückt hatte.

»Nein, Euer Hochwürden!«

Dieser eisige Winter war eine Geißel für die Menschen. Die Temperaturen änderten sich kaum und bereits jetzt kündigte sich erneut eine frostige Nacht an. Nach einer längeren Unterredung mit dem Priester verabschiedete ich mich und beschloss, mit Josef einen kleinen Schlummertrunk im Wirtshaus einzunehmen. Dieser Tag hatte mich geschafft und ich spielte mit dem Gedanken, gleich morgen früh das Abholzlager erneut aufzusuchen. Wir mussten die Arbeiter genau befragen.

Ich hatte die ganze Zeit nach unserer Rückkehr ein eigenartiges, bedrohliches Gefühl. Es sagte mir ganz deutlich, dass noch viel schlimmere Dinge passieren würden.

Ich betrat unsere Herberge und wunderte mich über die Stille, die mich dort empfing. Ehe ich mich einen Augenblick auf mein Bett legen würde, wollte ich Sepp aufsuchen. Ich klopfte an seine Zimmertür.

»Wer ist denn da? Ich komme ja schon!«, meckerte er schlaftrunken.

Langsam wurde die Tür geöffnet und Sepp winkte mich herein.

»Ich wollte nur sehen, wie es dir geht.«

»Wie soll es mir nach diesen Ereignissen gehen? Wir haben uns da ja auf eine schöne Sache eingelassen! Ich habe dauernd die schrecklichen Bilder vor Augen! Wie haben die Eltern auf die Todesnachricht reagiert?«

Ich nahm auf einem Stuhl Platz.

»Es war schlimm! Ich hatte wirklich Schwierigkeiten, diese Nachricht zu überbringen und war froh, dass der Geistliche dabei war!«

Sepp nickte und zündete sich eine Pfeife an.

»Ein Priester ist besser in der Lage, den Tod eines geliebten Mitmenschen zu überbringen. Ich hoffe, du hast ihnen nicht gesagt, wie ihr Sohn zu Tode gekommen ist!«

Ich stellte mich ans Fenster und starrte in die einsetzende Dämmerung.

»Nein, ich habe ihnen gesagt, dass ihr Sohn bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen ist. Der Priester war ganz meiner Meinung, nicht die volle Wahrheit zu sagen.«

Mit zitternden Händen stopfte ich meine Pfeife.

»Ich hoffe nur, dass die Eltern ihren Sohn nicht noch einmal sehen wollen!«

Sepp begab sich an meine Seite und blickte ebenfalls aus dem Fenster.

»Das können wir nur hoffen, denn sonst werden wir nicht in der Lage sein, ihnen einen solch grausamen Tod zu erklären. Ich denke auch, dass es das Beste sein wird, die Arbeiter genauer zu vernehmen. Dieser Greindlbauer ist ein durchtriebenes, geldgieriges Schwein! Ich habe den Eindruck, dass ihm die Männer egal sind. Wenn ich in den Wäldern tätig wäre, dann hätte ich die Arbeit längst quittiert!«

»Du hast doch gehört, was dieser Wulff gesagt hat. Für die meisten Leute ist es die einzige Geldquelle in der Gegend. Und das weiß dieser verdammte Greindlbauer und beutet sie schamlos aus! Mit diesem Hundesohn werden wir sicherlich die allergrößten Schwierigkeiten bekommen!«, echauffierte ich mich.

Sepp hatte sich auf sein Bett gesetzt und zog einen wärmeren Pullover an.

»Es wäre heute Abend angebracht, der Wirtsstube einen Besuch abzustatten. Vielleicht ist Gunzinger dort. Der hat bestimmt einige Schauergeschichten auf Lager!«

Ich grinste. »Das Gleiche wollte ich dir vorschlagen. Langsam habe ich allerdings die Nase voll von irgendwelchen Schauermärchen, denn was sich bis jetzt abgespielt hat, ist schlimm genug!«

Er nickte, ging zur Waschschüssel und machte sich frisch. Ich reichte ihm das Handtuch.

»Marius, als der Wind in der vergangenen Nacht so schlimm war... ich meine, hast du da Stimmen gehört?«

Ich bekam eine Gänsehaut bei seinen Worten.

»Ja, die habe ich auch gehört, die Männer im Arbeitslager müssten sie ebenfalls vernommen haben!«, rätselte ich.

»Nicht unbedingt, denn du darfst nicht vergessen, dass diese Leute einen verdammt harten Arbeitstag hinter sich haben und ihr Schlaf tief und fest ist!«, meinte Sepp.

»Ich denke, wir werden bei den Vernehmungen mehr erfahren.«

Ich überlegte eine Weile und kam zu keinem Ergebnis. Immer wieder tauchten diese Bilder vor meinen Augen auf, die ich im Archiv so deutlich gesehen hatte. Und jetzt dieser grauenvolle Mord im Wald. Ich musste mir eingestehen, dass ich Angst hatte. Der Leichnam war noch nicht beerdigt. Morgen würde ein Gerichtsmediziner in Riedberg eintreffen. Ich hatte mit dem Pfarrer alles Notwendige besprochen und es schien, dass er eine große Hilfe für uns war.

»Sepp, ich ziehe mir etwas Wärmeres an, bevor wir ins Wirtshaus gehen«, sagte ich und ging in mein Zimmer.

Später klopfte es an meiner Tür. Lechtinger übergab mir ein Telegramm. In diesem stand, dass der Gerichtsmediziner nicht nach Riedberg käme, man fordere stattdessen einen Schlitten, der den Leichnam zu einer genauen Obduktion nach München überführen solle.

Ich zeigte Josef das Telegramm, danach machten wir uns auf den Weg zum Wirtshaus. Der Schnee knirschte unter unseren Sohlen und der Himmel kündigte eine sternenklare Nacht an. Als wir das Gasthaus betraten, schlug uns eine wohlige Wärme entgegen. Zielstrebig steuerten wir die Theke an. Die Wirtsleute begrüßten uns und ich bestellte zwei Maß Bier. Blauer Dunst erfüllte das Wirtshaus. Gerade kramte ich meine Pfeife aus der Tasche, als mir jemand auf die Schulter klopfte. Erstaunt blickte ich in ein wettergegerbtes Gesicht. Der Mann trug eine uralte Armeeuniform. Ich erkannte ihn sofort wieder.

»Die Polizisten aus München«, grunzte er.

»Na, ist alles klar, Gunzinger?«, fragte ich.

»Das hoffe ich zumindest!«

Zu meiner Überraschung saß der Pfarrer an der Theke und unterhielt sich mit Sepp. Gunziger nahm zögernd neben mir Platz. Ich bestellte ihm ein Bier. Die anderen Gäste beobachteten uns, das konnte ich deutlich spüren, und ich merkte ebenso, dass der alte Gunzinger den Blicken der anderen auswich. Er ähnelte einem gehetzten Tier. Wir prosteten uns zu.

»Herr Gunzinger, was wissen Sie sonst noch von den eigenartigen Vorfällen hier draußen?«, begann ich.

Fast verschluckte sich der Greis. »Ich befürchte, ich weiß mehr, als mir lieb ist! Es ist das Blutwerk des Leibhaftigen! Er ist tatsächlich zurückgekehrt!«

Mir wurde übel bei dem Gedanken, was uns alles bevorstand. Gunzinger war ein eigenartiger Mensch. Er hatte irgendetwas Unheimliches und Abstoßendes an sich.

»Herr Gunzinger, ich denke wir sollten trotzdem sachlich und nüchtern bleiben. Es muss doch einen Weg geben, diesen Kreaturen auf die Schliche zu kommen!«

Gunzinger rückte näher und blickte mir fest in die Augen, dann lächelte er und flüsterte: »Sie haben diese Höllenhunde bereits zu Gesicht bekommen! Also wissen Sie, dass es kein Hirngespinst von mir ist.«

Ich erzählte ihm von meinem Erlebnis im Archiv der Münchener Polizei. Er zog ein nachdenkliches Gesicht und nahm einen kräftigen Schluck Bier.

»Herr von Grollendorf, stellen Sie und Ihr Kollege sich darauf ein, dass sich in der nächsten Zeit die Ereignisse überschlagen werden! Das Tor zur Hölle hat sich bereits geöffnet! Der gefallene Engel hat sich erneut aufgerichtet und was viel schlimmer ist, er wird sich aller Seelen bemächtigen und das ohne Gnade!«

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