Elly Drüding-Müller

Zwischen Trümmern und Kohlenklau

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Noch immer bevormundet

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Das Jahr 1950 schlich so dahin. Monat für Monat, ohne dass sich etwas Besonderes ereignen wollte. Gerne wäre Mali noch weiter in die Schule gegangen, das aber wurde nicht ernsthaft diskutiert.

»Irgendwann wirst du heiraten«, hatte Mutter als Begründung ins Feld geführt. »Was du brauchst, ist eine Lehrstelle!«

Und das, was Mali nach Ansicht der Mutter brauchte, ließ nun auch nicht mehr lange auf sich warten.

»Wir haben was für dich gefunden!«, kreischte aufgeregt Tante Karla.

Mali stand in der Tür und sah verständnislos von einem Erwachsenen zum anderen. So einen fröhlichen Nachmittag hatte sie mit Hans und Willi im Schwimmbad verbracht. Jetzt ahnte sie Böses.

»Aber nicht in eine Näherei, ich will ins Büro!«

»Eine feine Lehrstelle, da werden Gardinen genäht«, frohlockte Mutter, die den Einwand einfach überhörte.

»Ja, kannst mal sehen, haben wir durch Beziehung bekommen!«, jubelte Tante Karla.

»Verdonner, verdorri«, schimpfte nun laut Oma, »sie will ins Büro!«

Mali hörte alles nur noch wie aus weiter Ferne. Diese Lehrstelle musste sie antreten. Ob sie nun wollte oder nicht.

»Wann muss ich mich da vorstellen?«

»Gar nicht, alles schon perfekt!«
»Und Zeugnisse?«

»Auch nicht, der Meister kennt unsere Arbeit, wir haben schon für ihn genäht!«

Mali ließ den Kopf hängen. »Wann muss ich anfangen? Nicht am ersten April, wie üblich?«

Zufriedenes Lächeln der Mutter: »Nein, schon gleich im neuen Jahr!«

Die unangenehmsten Erinnerungen in ihrem noch kurzem Leben hatten immer mit Bahnhöfen zu tun. So auch dieses Mal. Es war der zweite Tag des Jahres 1951. Gelangweilt trottete Mali hinter Onkel John her, der mit langen Schritten auf dem Bahnsteig hin und her lief. Unter dem Arm trug er ein Paket, das für die Firma Jarchow bestimmt war.

»Wenn du doch dahin fährst, kannst du Mali gleich abgeben, dann muss nicht erst einer von uns mit!«

Das war es also, wie ein zweites Paket sollte Onkel John sie auch gleich mit abgeben.


Kalte Schauer liefen durch ihren ganzen Körper. Sie zog die noch kindlichen Schultern hoch, krallte die Hände ineinander, um so das Zittern, das nicht nur durch die Kälte auf dem zugigen Bahnhof kam, zu verhindern. Fast hätte sie ihren Onkel aus den Augen verloren. Der stolperte, nachdem der S-Bahnzug eingelaufen war, in das nächstliegende Abteil, ohne sich um sie zu kümmern.

Er war mit der Aufgabe, ein Kind dahin zu bringen, wohin es nicht wollte, vollkommen überfordert. Er konnte ihr keinen Trost zusprechen, weil ihm niemand in seinem Leben gesagt hatte, wie man das macht. Auch war er nicht der Meinung, dass die gesamte nachfolgende Generation in die Näherei musste. Was er aber wusste, war, dass man gegen die Damen nicht ankam, er jedenfalls nicht.


Sie kamen an der Petrikirche vorbei, in der nächsten Straße, in einem Eckhaus im zweiten Stock sollte Mali ihre neue Stelle beginnen.
Onkel John sah sich noch einmal nach ihr um. »Sie werden dich hier schon nicht fressen!«

Nach einem schrillen Klingelzeichen wurde die Tür geöffnet.

»Wat hem Se denn da, is dat de Lehrling?«

Erschrocken sah Mali hoch. Was da vor ihr stand, war in keiner Weise mit einer der Chefinnen zu vergleichen, die sie bei ihren Vorstellungen kennengelernt hatte. Auch nicht mit dem feinen Personalchef aus der Wäschefabrik.

»Is de aver dünn«, gab nun Herr Jarchow laut lachend von sich und schlug dabei dem armen Onkel kräftig auf die Schulter.

Der seinerseits grinste verlegen und schlich sich an dem immer noch lachenden Mann vorbei. Er verschwand hinter einer der vier Türen, die von dem geräumigen Flur abgingen.

»Wat kiekst du denn so? Geflennt wird hier nich!«

Wo sich noch vor kurzer Zeit kalte Schauer in ihrem Körper breit gemacht hatten, waren es jetzt heiße. Gewiss war sie nicht auf den Mund gefallen, aber hier war ihr die Kehle wie zugeschnürt. Fassungslos sah sie an dem Mann hoch.

Der neue Lehrherr war groß und stattlich. Breite Träger garantierten, dass die Hose nicht über den dicken Bauch nach unten rutschte. Die Füße steckten in schlappigen Pantoffeln.

»Flennst du?«

Wieder diese Polterstimme. Unwillkürlich sah Mali dem Mann ins Gesicht. Er grinste. Es war ein breites Grinsen, ein sehr breites, nicht enden wollendes. Die Falten, die sich in alle Richtungen auf seinem Gesicht verteilten, waren nicht nur Lachfalten, es waren auch schon welche dabei, die das Leben gezeichnet hatte. Die Brille saß etwas schief auf einer Nase, die ein bisschen knollig war und wie sie feststellen musste, war sie einen Hauch zu rot.

Die Haare hatten ebenfalls die besten Jahre hinter sich. Man konnte nicht erkennen, ob es Absicht oder ein Versehen war. Der Scheitel saß nicht in der Mitte, aber auch nicht, wie üblich, an der Seite, er war irgendwo dazwischen.

»Püppi, de Lehrling is da!«, brüllte nun Herr Jarchow. Es erinnerte Mali stark an das »Halali« der Jäger.

Was nach kurzer Zeit auf dem Flur erschien, hatte nicht viel mit einer zierlichen »Püppi« gemeinsam, eher mit einer kräftigen, gut gestopften Puppe. Stattlich, rundlich, freundlich!

Es genügte ein Blick, um festzustellen, dass Frau Jarchow eine gepflegte Frau war, mindestens ein Jahrzehnt jünger als ihr Gemahl. Das kurze, naturgelockte Haar zierte ihren Kopf wie ein Häubchen.

In ihrem Gefolge sprangen zwei kleine braune Hunde, es mochten wohl Dackel sein. Sie standen ebenso gut im Futter wie Frauchen und Herrchen. Den einen nannten sie Moritz, den anderen Purzel.

Jetzt wusste Mali auch, warum sie Herrn Jarchow zu dünn erschien.

»Richard, brüll hier nicht so rum!«, tadelte nun Püppi ihren Mann. »Dabei muss sie es ja mit der Angst kriegen.«

»Gev er watt to eeten, de is to dünn!«

Gesagt, getan. Mali wurde von Püppi in die Küche geschoben.

Derweil sie ein wunderbares, knackiges, mit Mettwurst belegtes Rundstück verzehrte, konnte sie ihren Blick nicht von der Pfanne wenden, die auf dem Herd stand. Ein reeller Batzen Beefsteakhack, knusprig braun, verbreitete einen herrlichen Duft.

Püppi lächelte dem schüchternen Mädchen freundlich zu, griff nach zwei kleinen Schalen und füllte sie mit dem kostbaren Fleisch.

Mali traute ihren Augen nicht. Sie sah immer wieder weg.

Aber schließlich musste sie es glauben. Purzel und Moritz machten sich über das Hack her. So köstlich wie das Brötchen auch war, es blieb ihr fast im Halse stecken. Beefsteakhack kannte Mali nur aus der Auslage beim Schlachter, gegessen hatte sie noch keines.

»Du büst nich tun eeten hier, du schas ook arbeiten!«

Mali fuhr heftig zusammen, so sehr hatte sie sich erschrocken. Mit einer forschen Handbewegung forderte sie Herr Jarchow auf, ihm zu folgen.

Verstört trottete sie hinter ihm her. Forsch riss er eine der Türen auf, sie standen in der Nähstube. Ein Arbeitsraum, wie sie ihn auch von zu Hause kannte, nur größer. Vier Nähmaschinen ratterten da vor sich hin. Auf dem langen Zuschneidetisch türmten sich Berge von Stoffen.

»Aufhören!«, schrie Herr Jarchow.

Mit einem Schlag war es mucksmäuschenstill. Vier Frauen sahen neugierig auf Mali.

»Dat is de Prien«, polterte Herr Jarchow und zeigte dabei auf eine der Frauen.

Das Einzige, was Mali von Frau Prien richtig wahrnahm, war die etwas zu stattliche Figur, in einen blauen Kittel gezwängt, mit einer Brille mit dicken Gläsern.

»De kann nich kieken und schlöpt immer mol in.«

Frau Prien schien sich nicht über diese Bemerkung zu ärgern, sie sah wie gelangweilt an ihm vorbei.

Ganz anders Fräulein Hansen. Sie wurde Mali als nächste vorgestellt. Getrost konnte man sie als hager bezeichnen. Wütend blitzten die zusammengekniffenen Augen den Chef an.

»De hät immer ‘ne Wurstpelle an«, grinste Herr Jarchow.

Mali erfuhr dann später, die Wurstpelle war ein Regenmantel aus grauem, gummiartigem Stoff, ein Kleppermantel.

Fräulein Hansen jedenfalls hatte keine Lust mehr, Mali auch nur zuzunicken, sie machte sich, leise fluchend, wieder an ihre Arbeit.

Die beiden anderen Damen waren auf Vorstellungen dieser Art nicht besonders erpicht, sie setzten ihre Nähmaschinen in Gang und hörten nichts mehr.

Herr Jarchow konnte es sich aber nicht verkneifen, Mali noch laut lachend mitzuteilen, dass die eine zu häufig auf die Toilette ging, seiner Meinung nach jedenfalls, und die andere immer eine dicke Wolljacke anhatte, anstatt sich warm zu arbeiten.

»Und nu, arbeiten!«

Das war ein Kommando. Er legte Mali einen großen Stapel zugeschnittenen Stoff auf die Maschine, mit der Bemerkung, dass dies Bettdecken mit Volant werden.

Dass sie das konnte, setzte er voraus, schließlich kam sie ja aus einer Näherei.

Schwerfällig bückte er sich, zog eine Kiste unter dem Zuschneidetisch hervor, förderte eine Flasche zu Tage, Steinhäger stand auf dem Etikett. Er nahm einen kräftigen Schluck, stellte die Buddel zurück und verschwand.


Eines war Mali schon nach den ersten Stunden klar, eine Lehrstelle war das nicht, eine Arbeitsstelle auf jeden Fall.

Schweigen. Verbissen traktierten die vier Damen ihre Maschinen.

Die Einzige, die ab und zu mal zu Mali herüberblinzelte, war Frau Prien. Sie schien sich am wenigsten aus der Bärbeißigkeit des Chefs etwas zu machen. Wie Mali später erfuhr, war sie schon zwanzig Jahre bei Herrn Jarchow und hatte reichlich Gelegenheit, sich an ihn zu gewöhnen.

Achtzehn Uhr, Feierabend. Müde erhoben sich die Damen, packten ihre Taschen und verließen den Arbeitsraum. Mali stand unschlüssig neben ihrer Nähmaschine. Neugierig lugte sie durch den Türspalt und konnte gerade noch sehen, wie sich Frau Hansen in ihre Wurstpelle zwängte.

Da niemand zu sehen war, schickte auch sie sich an, den Raum zu verlassen.

Von Herrn Jarchow hatte sie tagsüber nicht viel gesehen. Zwar tauchte er ab und zu mal auf, auch war immer wieder seine polternde Stimme zu hören. Er hatte sein Büro in einem kleinen Zimmer, das genau neben der Nähstube lag. Und nicht zu vergessen, wenn ihn der Durst plagte, brauchte er einen kleinen Schluck aus der Flasche, die ihren Platz unter dem Zuschneidetisch hatte.

Zögernd griff Mali nach ihrem Mantel, den sie am Morgen an einem Haken auf dem Flur aufgehängt hatte.

»Wat schal dat denn?« Der Herrscher war plötzlich da!

»Ich denke, ich habe jetzt auch Feierabend?«

Auf Plattdeutsch, laut und in rasantem Tempo, wurde ihr nun klargemacht, einmal, dass sie sein Lehrling war und er ganz alleine auch bestimme, wann sie gehen kann, zum zweiten, das teilte er ihr auch gleich mit, wann sie, als sein Lehrling, zu kommen hatte, nämlich eine halbe Stunde vor den anderen.


Schon am nächsten Morgen wusste Mali auch warum. Ihr erster Gang war der zum Bäcker, um frische Brötchen zu holen. Eines der köstlichen Rundstücke war immer für sie selbst, weil der Chef fest davon überzeugt war, eine gute Arbeitskraft braucht auch Kraft, und sie war ja seiner Meinung nach viel zu dünn.

Jeden Morgen das gleiche Spiel.

»De sünd pappig, de sünd vun gestern!«

Einige Male hatte sie sich das angehört, dann platzte ihr der Kragen.

»Wenn Sie meinen, dann kann ich ja die Brötchen alle erst mal anbeißen, bevor der Bäcker sie in die Tüte steckt!«

Die Obrigkeit stutzte, starrte auf den frechen Lehrling und schüttelte sich dann laut und prustend aus vor Lachen. Von dem Tag an war Ruhe.

Die nächste Pflicht vor Arbeitsantritt war ein Spaziergang. Nicht irgendeiner, nein! Moritz musste die zwei Stockwerke getragen werden, Purzel schleppte seine dicke Figur recht und schlecht alleine die Stufen herunter.

Mali musste mit den Hunden Gassi gehen. Einmal um den Häuserblock, dann noch beim Schlachter das Beefsteakhack kaufen. Von dem bekam Mali leider nichts ab.


»Fräulein«, lachte der junge Geselle, »her mit den beiden, die stecken wir gleich in die Wurst!«

Wenn ein so gut aussehender junger Mann sich über ein fünfzehn Jahre altes Mädchen in der Weise lustig machte, war es auch nicht verwunderlich, wenn Schamesröte vom Hals an aufwärts zog und erst am Haaransatz Halt machte.

»Dem einen hängt ja schon der Bauch bis zur Erde«, konnte sich der Kollege, der unglücklicherweise aus dem Hintergrund auftauchte, nicht verkneifen.

In ihrer Verzweiflung zerrte Mali derart an den Hundeleinen, weil sie schnell aus dem Laden wollte, dass die armen Viecher lange dünne Hälse bekamen.

Nach achtzehn Uhr musste sie entweder weiter an ihrer Nähmaschine arbeiten oder der Boss schleppte private Bügelwäsche heran.

Püppi war mit der Lehrlingshaltung, so wie sie hier praktiziert wurde, nicht einverstanden. Als Trostpflaster klebte sie Pralinen oder auch mal ein Fünfzigpfennigstück auf Malis Seele.


Das Ömchen war erbost und hielt damit auch nicht hinter dem Berg. Sie allein fühlte sich unschuldig. Großvater hatte immer schon die Meinung vertreten, dass es unmoralisch sei, wenn junge Mädchen arbeiten. Die übrige Familie hielt sich zurück und ließ sich das schlechte Gewissen nicht anmerken.

»Vater«, trumpfte eines Tages Oma auf, »du bist hier der Herr im Hause und wirst diesem Leuteschinder mal klarmachen, dass die Deern pünktlich Feierabend haben muss!«

Der so Angesprochene hatte bisher zwar noch nie das Gefühl gehabt, der Herr im Hause zu sein, genoss diese neue Einsicht seiner Frau sehr und schwang sich tatsächlich ans Telefon.

Höflich, die Worte sorgsam gewählt, wurde nun Herr Jarchow aufgefordert, sich an geregelte Arbeitszeiten zu halten.

»Foten Se sik an de Büx, dat is mien Lehrling, geben Se er lieber wat to freeten, de is veel to dünn«, donnerte es durch die Leitung, tief ins innere Ohr des erschrockenen Großvaters.

Bis in das Mark hinein erschüttert, ließ dieser kraftlos den Hörer auf die Gabel niederfallen. So jedenfalls hatte es noch kein Mensch gewagt, mit ihm zu reden.


Mali jedenfalls hatte sich nicht nur in ihr Schicksal gefügt, sie hatte sich auch an Herrn Jarchow gewöhnt.

Nachdem er den vier Damen eines Tages mitgeteilt hatte, dass sein Lehrling das »Sagen« hatte, wenn er nicht im Hause war, waren sie fürchterlich verschnupft. Frau Prien hatte als Erste zu ihrer Gelassenheit zurückgefunden, den anderen drei Frauen bot dieser unmögliche Mensch die Entlassung an. Arbeit war knapp, also blieb die Mannschaft geschlossen dabei.


Außer, dass Mali täglich schwere Pakete in ein Bettenhaus schleppen musste, hatte sie vielerlei verschiedene Aufgaben zu erfüllen.

Die für einen Lehrling außergewöhnlichste war diese:

»Mali, sei so nett, hole bitte den Chef ab!« Befehl von Püppi.

Das bedeutete einen Zehn-Minuten-Weg. In der Kneipe, nahe der Petrikirche, wurde sie dann schon mit großem Hallo begrüßt.

»Dat is mien Lehrling, gev er wat to drinken!«

»Herr Jarchow, Sie möchten zum Essen kommen!«

Jedes Mal ein endloses Hin und Her.

»Na, denn wüllt wi man!«

Den ganzen Weg über stützte er sich, wie er meinte, auf sein Eigentum, und irgendwann kam Mali mit ihrem stark angetrunkenen, schweren Gepäck bei Püppi an. Dieser Transport war der Ehefrau immer ein gutes Mittagessen wert.


Einmal war leider etwas schief gegangen. Das war für den Chef dann auch der schwarze Montag.

Die Aufforderung, mit nach Hause zu kommen, fiel einmal leider nicht auf fruchtbaren Boden. Der Boss war voll des guten Weines. Seine »Hauszierde« hockte schon längere Zeit am Küchenfenster, von wo aus sie die Straße gut übersehen konnte. Hätte sich der Gatte nicht genötigt gefühlt, mit seinem lauten Gesang alle Passanten zu unterhalten, wäre der Kelch noch einmal an ihm vorbeigegangen.

Mühsam hüserte Mali ihre Schnapsleiche durch das Treppenhaus, Stufe für Stufe, aufwärts. Sie hatte sie nicht bemerkt, aber auf dem ersten Treppenabsatz stand sie vor ihnen. Püppi!

Zornig, wütend, schnaufend, ausgehfertig angezogen. In der einen Hand einen Koffer, die andere brauchte sie, um sich am Geländer festzuhalten.

»Oh, Fräulein, wollen Sie verreisen?«, lallte gut gelaunt der Ehegatte.

»Das ist doch Ihre Frau«, flüsterte Mali, ganz in der Hoffnung, zu retten, was zu retten war.

»Hallo, Fräulein«, lallte er weinselig noch ein paar Mal.

Es war offensichtlich, dass er nicht mehr erkannte, wen er da vor sich hatte. Erbost drängte sich Püppi an den beiden vorbei, ohne sie auch nur noch eines Blickes zu würdigen.

Oben angekommen, öffnete Frau Prien die Tür. Grinsend und mit der ihr angeborenen Leidenschaftslosigkeit schickte sie sich an, wie selbstverständlich den Boss in sein Bett zu transportieren. Da merkte man eben, dass sie mit ihm schon zwanzig leidvolle Jahre verbracht hatte. Für Püppi war und blieb es Neuland. Ihr Zusammenleben mit dem guten Stück währte zunächst einmal ganze drei Jahre.

So vergingen die ersten Monate. Wenn sie am Abend auch sehr müde war, sie hatte sich daran gewöhnt.

Der beste Tag im Monat war der Zahltag. Der Lohn für die Arbeit waren fünfundzwanzig Mark. Jedes Mal mit großer Geste, eingetütet und überreicht durch Püppi, sie war für das Personal und für die Buchhaltung zuständig.

Eine halbe Stunde später wurde Mali in die Küche gerufen.

»Hier, für dich, aber nicht dem Chef sagen!« Fünf schöne Mark, ebenfalls überreicht durch Püppi.

Jedes Mal am selben Tag landeten nochmals fünf Mark in Malis Tasche, mit der dringenden Weisung, kein Wort zur Frau des Hauses.

Auf diese Weise beruhigten die beiden, unabhängig voneinander, ihr Gewissen und sparten sich so den Weg zur Beichte.


»Mama, heute war eine Dame bei uns in der Firma, sie kam von der Schulbehörde!«

»Was wollte die denn?«

»Ich muss in die Berufsschule. Sie hat dem Chef vorgeworfen, dass er auf die drei Aufforderungen, die man ihm zugeschickt hatte, nicht reagiert hat!«

Mutter sackte sichtlich in sich zusammen. Sie wusste, dass man mit Herrn Jarchow nicht reden konnte, da hatte selbst Oma ihren Meister gefunden. Jedenfalls ließ man sie nicht auf ihn los, weil anzunehmen war, dass es dann auch keine Lehrstelle mehr gab.

»Was hat er gesagt?«

»Er hat ihr laut und deutlich klargemacht, dass kein Mensch mit dem dummen Zeug aus der Schule etwas anfangen kann. Er wüsste, lesen und schreiben kann ich und arbeiten lerne ich bei ihm.«

»Und dann?«

»Er hat ihr noch ein paar passende Worte gesagt, wie er sich ausgedrückt hat, und sie hinausgeworfen!«

Mutter hatte die Arme auf den Küchentisch gelegt, so, als müsse sie sich ein bisschen abstützen, um nicht vom Stuhl zu fallen.

»Lass das nur nicht deine Oma hören!«


Nach zwei Wochen erschien ein Herr von der Handwerksinnung. Ihm erging es ebenso wie seiner Vorgängerin. Auch er wurde hinausgeworfen.

Der nächste Brief von der Schulbehörde wurde rechtzeitig von Püppi beschlagnahmt. Ein Streit zwischen den Eheleuten entbrannte und brachte eine Einigung. Mali musste einmal in der Woche in die Berufsschule. Aber nur jedes zweite Mal, hatte der Prinzipal beschlossen, sollte sie hingehen.

Frau Jarchow schrieb die Entschuldigungen, wenn auch widerwillig, aber was blieb ihr anderes übrig?

Eine Zeit lang nahm die Schule, wenn auch verwundert, diese Krankmeldungen hin. Dann kam, was kommen musste: die Wende. Mali wurde zum Schularzt befohlen. Der seinerseits kam nach eingehender Untersuchung zu dem Schluss, dass man sie unbedingt verschicken müsste, da sie blass und untergewichtig war.

Auf den Schrecken hin musste Herr Jarchow gleich ein paar Schluck mehr aus seiner Flasche zu sich nehmen. Püppi wollte sich ausschütten vor Lachen, weil sie ihm die Niederlage von Herzen gönnte.

Mali wurde nicht verschickt, durfte von nun an aber häufiger in die Schule gehen. Gefehlt wurde immer noch, aber nicht mehr in so regelmäßigen Abständen.