Sigfried Flemming
Lohn der Illusion
9.
Günther erfuhr von Bettinas Verheiratung durch einen Blick in die Zeitung und versuchte sich vorzustellen, wie die Festlichkeit verlaufen war, wer an ihr teilnahm und welche Personen ausgiebig Gelegenheit hatten, das neu vermählte Paar zu bewundern und mit Segenswünschen zu bedenken.
Und in Sekunden erhöhter Einbildungskraft meinte er sogar, sich in etwa vorstellen zu können, welches Aussehen Bettinas Ehemann hatte und wie es ihn stolz machte, an der Seite einer viel bewunderten Frau durch das Spalier gut gelaunter und begeisterter Gäste zu gehen.
Leider beschäftigte ihn noch einiges mehr: Er machte sich zunächst Gedanken darüber, aus welchen Motiven Bettina in den heiligen Stand der Ehe getreten war. Zudem kam ihm wie von selbst der Ausspruch Leopolds in den Sinn, wonach die meisten Leute nur heiraten, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Auch dachte er an eine Geschichte, die sich vor wenigen Monaten in der Stadt zugetragen hatte, wonach ein reicher Kaufmannssohn mit einer Angestellten aus reiner Langweile flirtete, mit ihr an unterschiedlichen Orten ausgelassene Feste feierte, sich zu sehr an den kredenzten Getränken berauschte und es eines Abends beim gemeinsamen Heimweg nicht verhindern konnte, dass ihn das unaufhaltsame Begehren beherrschte, sich an seiner Begleiterin zu vergreifen; was dazu führte, dass sie sich nach entsprechender Zeit schwanger fühlte und auf den angeblichen Verursacher so lange einredete, bis dieser bereit war, sie zu heiraten, um nicht unnütz ins Gerede zu kommen.
Natürlich war Günther weit davon entfernt, von seiner immer noch geliebten Bettina, die er verehrte und die er nicht vergessen, die er einfach nicht aus seinem Denken und Fühlen verbannen konnte, Derartiges zu denken, da er zu gut wusste, dass sie sich ihm gegenüber stets zurückhaltend benommen hatte und mit keinem Wort und keiner Geste zu erkennen gab, dass ihr nach körperlicher Liebe zumute war.
Und weil dem so war, überdeckte eine fürchterliche Eifersucht seinen Gefühlsbereich, gaukelte ihm allerlei Bilder vor, zeigte Bettina entweder als treue Ehefrau am häuslichen Herd, als ständige Begleiterin ihres Mannes bei kulturellen Ereignissen, als anmutige Gastgeberin bei Geburtstagsfeiern oder in höchster Leidenschaft mit ihrem Gatten vereint, um mit ihm die höchsten Wonnen der körperlichen Liebe zu erleben.
Die Folge davon war, dass ihn eine maßlose Traurigkeit überfiel, die ihn des Abends hinaus in die Stadt, in die menschenleeren Straßen und Gassen trieb. Dort schlich er müde und schlapp an warenüberfüllten Schaufenstern vorbei, überhörte das Schnaufen und Quietschen von Straßenbahnen und versuchte vergebens, jene aufrührerische Musik zu überhören, die aus spärlich beleuchteten Gaststätten und Cafés zu hören war.
Dabei fragte er sich: "Welche Art von Freude und Lust kann es nur sein, die sich bestimmte Menschen in überfüllten Spelunken bei aufdringlicher Musik erhoffen? Ist es ihr ernsthaftes Anliegen, sich zu freuen und zu entspannen? Oder kann es lediglich das fragwürdige Bestreben sein, auf diese Weise den Realitäten des Alltags zu entfliehen?"
Da er aber nicht verhindern konnte, dass diese Musik, die etwas von einer unbeschreiblichen Fremdheit, von einer lächerlichen Amerikahaftigkeit in sich hatte, unaufhaltsam auf ihn losstürmte, ging er traurig und mutlos in sein Zimmer zurück, schaltete kurz entschlossen das Radio ein und hörte sich jene Melodien an, die er liebte und die ihn zufriedenstimmten, sodass er gegen Mitternacht beruhigt einschlafen konnte. Und diese musikalische Erbauung wirkte so stark in seinen Erinnerungen nach, dass er am folgenden Tag keine Freude an seinen beruflichen Pflichten hatte und beim Fertigen von Zeichnungen und Skizzen äußerst lasch verfuhr.
Leopold bemerkte seine Unlust zur rechten Zeit, stellte hierüber ernsthafte Überlegungen an und hielt es plötzlich für dringend geboten, Günther endlich mit der Information zu überraschen, dass sich nunmehr die Chancen für ein Studium wesentlich verbessert hätten. Zusätzlich gab er ihm noch eine Fülle ausgezeichneter, praktischer Ratschläge, wie er sich am besten auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten könne.
Diese Glücksumstände wirkten derart motivierend auf ihn ein, dass er alle Trübsal vergaß und sogar an Bettina nicht mehr dachte. Wie von einer geheimen Macht getrieben, fühlte er plötzlich ungeahnte Kräfte in sich wirken und nahm sich vor, sehr konzentriert zu lesen, zu lernen und zu büffeln, um die Aufnahmeprüfung mit guten Noten zu bestehen. Folgerichtig saß er bis tief in die Nacht hinein über ausgeliehene Bücher gebeugt und verglich die Aussagen und Lehrsätze bekannter Architekten mit dem, was er schon wusste, sodass er bald zu einem fachlichen Wissen kam, wovon andere nur träumen konnten.
Und jedes Mal, wenn er glaubte, den Stein des Weisen gefunden zu haben, erhob er sich in seliger Stimmung und schwebte wie im Rausch durch sein dürftiges Zimmer, als hätte er endlich die Zauberformel für ein erfolgreiches Streben gefunden. Zudem überdachte er am darauffolgenden Morgen äußerst intensiv, wie er seine Vorbereitungen noch verbessern könne.
Hinzu kam, dass es ihn zusätzlich motivierte, es Bettina und ihren Schwestern zu zeigen, zu welch großartigen Leistungen ein Günther Schubert befähigt war. In einem ungewöhnlichen, bisher nicht für möglich gehaltenen Überschwang stellte er sich sogar die wunderlichsten Dinge vor und sah sich schließlich als eine Persönlichkeit, die imstande sei, nach einem exzellenten Hochschulabschluss beruflich sehr, sehr weit zu kommen.