Dr. Gerhard Knull
Die Mündigung - Wege der Reife
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Über die Entstehung der Gesetze
Alle Physik beruht auf der »Annahme, daß es ein System von Gesetzen gibt, die die Evolution des Universums von Anfang an vollständig bestimmen« (Hawking). Ihre wissenschaftliche Grundlage »bilden die bekannten physikalischen Gesetze, deren Gültigkeit für das gesamte Weltall und für alle Zeiten vorausgesetzt wird« (Zimmermann/Weigert). Die Physiker »glauben, das Universum sei genau definierten Geset-zen unterworfen, die uns im Prinzip gestatten, die Zukunft vorherzusagen« (Hawking).
Das ist doch klar, möchte man sagen, das ist offensichtlich. Endlich etwas sofort Einleuchtendes in der Physik, etwas Eindeutiges, etwas, auf das man sich verlassen kann. Warum reden die Physiker da noch von Annahme und Glauben?
Nun, alles unterliegt, wie wir gesehen haben, dem Wandel. Nichts ist von Dauer. Die Ewigkeit, von der wir so oft reden, ist ein Produkt des menschlichen Geistes. Kein Mensch hat sie bislang erlebt. Gerade dann, wenn etwas als ewig ausgegeben wird, wie ewige Liebe etwa, als sicher und unumstößlich, ist Wachsamkeit geboten. Die Sicherheit ist nur zu oft nur Schein, nur Schale. Und hinter harten Schalen steckt manch fauler Kern.
Wer Schein und Anschein meiden will, muß sich mit scharfem Blick und starken Zweifeln wappnen. Wenn noch Geduld hinzukommt, wird er fast jede behauptete Wahrheit brüchig finden. Da bilden die »Natur«gesetze keine Ausnahme. Auch bei ihnen gibt es manche Ungereimtheiten und Widersprüche. Und gleich am Anfang der Gesetze liegt ein »Geburtsfehler«. Denn nach der Standardtheorie der Kosmologie, die aufgrund Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie und Edwin Hubbles 1929 entdeckten Fluchtbewegung aller fernen Galaxien heute allgemein anerkannt wird, »entstand das Universum vor ungefähr 15 Milliarden Jahren in einer kosmologischen Singularität - einem Zustand, in dem Temperatur und Dichte unendlich hoch gewesen sein müssen« und »die heutigen Gesetze der Physik... nicht galten« (Andrei Linde). »Die gesamte Energie des heutigen Kosmos« war »in einem winzigen Raumbereich konzentriert. Materie, wie wir sie kennen, gab es noch nicht« (Reichert).
Die Welt im Kopf
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Große Vereinfacher bedeutenden Formats können zum Mythos werden. Sie können ihn schaffen. Sie können ihm auch erliegen. In beiden Fällen sind Opfer nötig. Dazu gehört die Überwindung etwaiger anfänglicher Unsicherheiten und Hemmungen. Simplifizierungen dulden keine intellektuellen Skrupel. Bei zunehmendem Widerstand gegen die Durchsetzung ihrer Ziele können Große Vereinfacher alle Hemmungen ablegen. Dann opfern sie auch ihre Wahrheit, ihren Anstand und schließlich ihre Mitstreiter. Sie schieben die Schuld für die aufgetretenen Schwierigkeiten und das absehbare Scheitern ihres Vorhabens anderen zu. Sie suchen Saboteure und Verräter in den eigenen Reihen und lassen diese kaltstellen oder beseitigen. Und ihre Anhänger machen willig mit, versuchen, sich »hervorzutun«, aufzufallen, um aufzusteigen und nicht der Vereinfachung zum Opfer zu fallen. Dabei können alle Dämme brechen. Wenn die persönliche Verantwortung fällt, wenn das Handeln sich von der Herrschaft des Geistes löst, wenn die Tat sich quasi selbständig macht, ist der geistig »entfesselte« Mensch zu unsäglichen Verbrechen und unerhörter Grausamkeit imstande. Die Geschichte hat das immer wieder gezeigt. Fast alle Gewaltherrscher sind am Ende diesen Weg gegangen. Ihre anfangs durchweg als gut und einfach bezeichneten Ziele sind schließlich in einem Meer von Elend, Chaos, Blut und Tränen versunken.
Anfangs können Große Vereinfacher von Gewicht erstaunliche Erfolge haben. Das Einfache kann vieles bewegen. Es ist leicht, unbelastet und schnell umzusetzen. Es kommt allen Einfachen entgegen, so wie diese ihm. Wenn alle Großen Vereinfacher schließlich doch scheitern, so liegt das nicht an menschlicher Schwäche, an unfähigen Mitstreitern, Abweichlern, Saboteuren oder Verrätern, wie sie nachträglich behaupten. Es sind auch nicht die Zeitläufe, widrige Umstände oder nur Pech. Sie hätten noch so viel Glück haben können, sie hätten auch dann einen Fehlschlag erlitten. Sie mußten notwendigerweise verlieren. Ihr Vorhaben war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Die Gründe für das Scheitern der Großen Vereinfacher sind so einfach wie sie selbst: Es sind die Tatsachen, die Wirklichkeit, die Welt. Die Großen Vereinfacher scheitern alle an der Realität. »Die Verhältnisse, sie sind nicht so« (Bertolt Brecht), wie die Großen Vereinfacher sie sich zurechtbiegen möchten. Die Realität läßt sich nicht vereinfachen. Sie läßt sich nicht auf einfache Maße zu-»recht«-schneiden.
Wer einen Teil für das Ganze nimmt, wer einen Teil der Realität herausgreift und glaubt, damit das Ganze bestimmen zu können, muß notwendigerweise scheitern. Kein Teil gleicht allen anderen Teilen. Keine Teilregel paßt für alle Teile, schon gar nicht für das Ganze. Wenn eine Teilkraft Macht über das Ganze erlangt, wird sie, und sei sie noch so mächtig, alsbald das ganze Gefüge, das Gefüge des Ganzen, zugrunde richten.
Einfache Ordnungen können keine komplexen Vorgänge regeln. Und keine Regel ist über ihren Gültigkeitsbereich hinaus wirksam. Deshalb müssen alle Versuche, Menschen unterschiedlicher Art, Veranlagung und Befähigung »gleichzuschalten« oder gar einen Übermenschen zu schaffen, scheitern. Keine Planwirtschaft kann die komplexen Wirtschaftsabläufe dauerhaft und ohne Schäden regeln. Und die Relativitätstheorie kann weder die Vorgänge im Bereich des Mikrokosmos noch in Schwarzen Löchern, geschweige denn Entwicklungen des Lebens oder des Geistes, erklären. So ehrenhaft die Suche nach einfachen Regeln im Einzelfall auch sein kann, namentlich in den Wissenschaften, die Redensart »Der Teufel steckt im Detail« paßt auch auf Regelwerke, wobei man sich, wenn man schon dieser Redensart folgt, die Frage stellen kann, ob dabei besonders an die Quantenmechanik gedacht ist oder ob danach eine gewisse Arbeitsteilung gilt und Gott im Großen zu suchen ist.
Jedenfalls gibt es in dieser Welt weder einfache noch dauerhafte Lösungen. Die vielfältig komplexen Vorgänge des Seins können nicht auf einfache Weise »gelöst« werden. Selbst wenn ein entsprechend komplexer Lösungsschlüssel gefunden würde, wäre keine »Lösung« auf Dauer möglich. Denn die Zustände dieser Welt ändern sich so anhaltend und so schnell, daß jede Lösung nach kurzer Zeit überholt wäre, nicht mehr »passen« würde und deshalb zu einem Knebel und zu einer Entwicklungsbremse würde. Sie wäre dann zwar auch eine »Lösung«, aber eine Lösung von der Realität, eine Lösung von der fortschreitenden Gegenwart. Deshalb sind Bestrebungen, neue Spezialgesetze von vornherein mit einer Gültigkeitsdauer, quasi einem Verfallsdatum, zu versehen, grundsätzlich zu begrüßen.
Im voraus festgelegte, starre Gültigkeitsdauern können allerdings wiederum zu Problemen führen. Alles, was zu eng und beschränkt ist, was zu streng und zu »ernst« genommen wird, was keine »Toleranzen« hat, behindert und bremst die Entwicklung. Was abgeschottet wird oder sich selbst abschottet, verliert die Verbindung zur Umwelt, zu neuen Einflüssen und Anregungen, und manchmal die Luft zum leben. Wer ein Ziel im Auge hat, verliert andere Zielsetzungen aus den Augen. Wer nur ein Ziel verfolgt, ist bald am Ende.
Der mündig werdende Mensch muß das Einfachdenken überwinden. Er muß sein Denken der Komplexität des Seins anpassen. Er muß aufhören, in den Kategorien von »entweder-oder« zu denken. Es gibt nicht nur ja und nein, schwarz und weiß, gut und böse. Gut und böse sind ebenso Vereinfachungen wie Sünde und Vergebung, Himmel und Hölle, wie der biblische Gott und der Teufel. Es sind Bilder und Vorstellungen aus den Kindheitstagen des Menschen. Erst wenn es dem Menschen gelingt, nicht mehr solchen Anschauungen »verhaftet« zu sein, wird er wirklich erfassen, daß er allein und ohne die Möglichkeit einer göttlichen Sündenkorrektur für sein Handeln auf und mit »seiner« Erde verantwortlich ist.