Tilly Kübler-Jung

Begegnungen - Die Macht der Illusionen



.....Sie zwingt sich, mit betont langsamen Schritten zur Tür zu gehen, hört wie er klopft. Laut, kräftig, unüberhörbar.

Sie atmet stoßweise, weiß nicht, wohin mit ihren feuchten Händen, streicht sich schließlich fahrig durchs Haar und wirft einen schnellen, letzten Blick in den Spiegel, öffnet ihm nicht sofort ihre Tür.

Große, dunkelrote Flecken bilden sich auf ihrem Gesicht, die ihre Nervosität verraten und sie ärgerlich machen. Trotzdem sieht sie gut aus. Erotisch. Vom Leben noch alles erwartend.

Mit einer Kopfbewegung wirft sie ihre langen dunkelbraunen Haare nach hinten über die Schulter. Sie weiß, dass sie nicht mehr jung ist, aber attraktiv und begehrenswert erscheinen kann. Das gibt ihr Sicherheit.

Sie öffnet die Tür, fühlt sich mit einem Mal besser, selbstbewusster, als sie in seine Augen blickt und dabei sieht, was er für sie empfindet, wie begehrlich er sie anschaut.

Er ist größer und jünger als sie. Kräftig, durchtrainiert. Sein Lächeln breit und charmant.

Fast jede Frau würde sie um ihn beneiden, das weiß sie.

Seine rot-weiße Ledermontur ist völlig durchnässt vom Regen. Von seinem Motorradhelm, den er in der linken Hand hält, tropft es nach unten auf ihren grauen Teppichboden im Flur. Dunkle, hässliche Flecken bilden sich darauf, die sie nicht interessieren.

Sie geht einen Schritt zurück, lässt ihn durch den kleinen Türspalt treten, den sie für ihn geöffnet hat.

Er steht dicht hinter ihr, sie kann seinen Atem in ihrem Genick spüren. Seine Nähe macht sie fast wahnsinnig vor Lust und Begehren.

Sie merkt, wie sich allmählich ihre feinen Härchen auf ihrer Körperhaut stellen, sie hört, wie in ihrem Kopf das Blut zu rauschen beginnt, spürt, wie der starke Herzschlag ihren Brustkorb hebt und senkt.

Sie nimmt ihn bei der Hand, führt ihn in das Innere ihrer Wohnung. Er lässt es sich gefallen.

Seine Lippen berühren ihre Lippen, seine Zunge dringt tief ein in ihren Mund.

Sie keucht, aber schiebt ihn sanft von sich weg, will sich jetzt noch nicht an ihn verlieren.

»Du wirst dich erkälten«, sagt sie leise und streicht dabei sanft über sein nasses Haar.

Es klang irgendwie mütterlich. Sie hasst sich dafür.

Er scheint es nicht zu bemerken, umarmt sie aufs Neue.

»Ich hab dich vermisst«, flüstert er. Seine tiefe, dunkle Stimme erotisiert sie.

Er löst sich von ihr, zieht etwas ungeschickt seine Lederjacke aus. Darunter trägt er trotz der kalten Jahreszeit nur ein ärmelloses T-Shirt. Verwaschen, alt. An ihm sieht es gut aus.

Miriam sieht die nackte Haut seiner breiten Schultern. Sie sieht glatt und jung aus, hat etwas Bräune vom letzten Sommer bewahrt.

Die nassen Haare hängen ihm ins Gesicht. Es scheint ihn nicht zu stören, doch es macht ihn irgendwie verletzlich.

»Magst du etwas trinken?«, beginnt sie fragend, als sie im Wohnzimmer stehen.

»Ja, Mineralwasser, bitte, wenn du welches da hast, ich muss ja noch fahren«, antwortet er eine Spur zu höflich. Wie ein Schüler, den man streng etwas gefragt hat.

Sie ignoriert es, geht in die Küche, sucht im Kühlschrank nach dem Wasser. Als sie die Flasche findet und herausholt, zittern ihre Hände leicht. Sie weiß nicht warum.

Schnell nimmt sie zwei Gläser aus dem alten Küchenschrank, der einst ihrer Großmutter gehört hat und nun das Schmuckstück ihrer Küche ist. Die Glasscheibe der Vitrine scheppert ein bisschen, als sie die Schranktür etwas zu hastig schließt.

Sie will ihn nicht unnötig warten lassen, geht schnell zu ihm zurück.

Als sie die Sachen wenig später auf den Wohnzimmertisch stellt, zittern ihre Hände noch stärker. Sie blickt ihn fragend an. Er reagiert nicht, schaut nur unbestimmt durch den Raum.

Gerne würde sie ihn wie ein junges Mädchen schüchtern fragen, ob er sie liebt.

Aber sie tut es nicht, denn sie weiß, dass sie sich selbst den Himmel blau malt, will keine Verlegenheit, keine Lügen provozieren.

Stattdessen sagt sie sachlich: »Oh, entschuldige. Ich bringe dir schnell ein Handtuch für deine Haare. Du bist ja völlig durchnässt.«

Ehe er antworten kann, eilt sie aus dem Raum.

Für ihre besorgte Stimme hätte sie sich ohrfeigen mögen.

Im Badezimmer fällt ihr Blick unbeabsichtigt in den Spiegel, als sie nach dem Frotteehandtuch am Haken greift.

Sie erschrickt.

Im hellen Licht der Leuchtstoffröhre wirkt ihr Gesicht viel älter als sonst, jede Falte wird erschreckend offensichtlich. Sie fühlt sich verbraucht, maskiert, will nicht begreifen, wie viele Jahre ihres Lebens schon vergangen sind. Gefühltes und tatsächliches Alter sind noch nicht im Einklang, doch der erste Schritt dahin ist getan.

»Wann wird ihn mein Alter wohl stören?«, jagt es ihr durch den Kopf.

Der Selbstbetrug tut mit einem Mal weh, trotzdem reißt sie sich energisch zusammen, strafft schnell und tapfer die Muskeln ihres Rückens und geht kerzengerade, ja viel zu steif, zu ihm zurück.

Er scheint zu ahnen, was in ihr vorgeht, fast mitleidig schaut er sie für den Bruchteil einer Sekunde lang an.

Das schmerzt sie mehr als alles andere, bohrt sich tief in sie ein.

Fast möchte sie weinen.

Doch schon im nächsten Augenblick strahlt er wieder sein verführerisches, jungenhaftes Lächeln und sie vergisst, was sie vergessen möchte, ist ihm dankbar dafür.

Als sie ihm das Handtuch überreicht, berührt ihre Hand leicht die seine.

Wie elektrisiert fährt sie zurück.

Er lächelt weiterhin, anders nun, seiner Macht gänzlich bewusst, der sie wie stets völlig zu erliegen droht.

Beim Trockenrubbeln seiner Haare treten die Muskeln seiner starken, durchtrainierten Arme hervor. Sie sieht es und fühlt sich noch schwächer, noch älter.

Dann lacht sie. Über sich selbst, ihre Bedenken.

Er lacht mit, weiß nicht warum.

Den Blick von ihm abwendend gießt sie Wasser in die Gläser, diesmal zittern ihre Hände nicht mehr, denn ihr ist egal, was morgen, was später sein wird. Sie lebt jetzt.

Er führt das Glas mit einer sehr selbstsicheren Bewegung zum Mund, nimmt einen tiefen Schluck und schaut sie herausfordernd an.

»Und jetzt, meine Liebe?«, fragt er schief lächelnd, streift sich eine lange, widerspenstige Haarsträhne mit der rechten Hand aus dem Gesicht und zieht dabei eine Augenbraue provozierend nach oben.

»Seltsam«, denkt sie, »seine Frisur war das Erste gewesen, was mich an ihm unglaublich fasziniert, maßlos erotisch angezogen hat. Seine dunkelblonden, glatten Haare, die ihm bei jeder Kopfbewegung leicht ins Gesicht fallen. Die er dann mit einer ganz besonderen, ihm eigenen Handbewegung nach hinten streicht. Und sein Lächeln dabei. So maßlos überheblich, als lache er über alles im Leben.«

Als sie ihm auf seine Frage nicht gleich antwortet, geht er auf sie zu, nimmt ihre Hand und führt sie ins Schlafzimmer, wirft sie aufs Bett, zieht sie gierig aus, liebt sie ein wenig zu hart.

Sie kennt das.

»Es war von Anfang an so leicht gewesen, fast nicht zu glauben«, denkt sie.

Sie hatte so lange darauf gewartet, so viele Tage und Nächte allein und einsam verbracht, bis er auf einmal in ihr Leben getreten war.

Ganz plötzlich, ganz unerwartet, ganz machtvoll.

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