Florian Wehner

Der Splitter in unserem Auge

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I, 2.

Samuel Bronstein stand an seinem Schreibtisch und betrachtete einige Telefax-Mitteilungen aus Deutschland, ohne sie wirklich zu sehen. In wenigen Minuten musste sein Sohn kommen und er, der auf Briefings trainiert war, ging kurz noch einmal durch, was er ihm mitzuteilen gedachte.
Bronstein hatte spät, dafür umso nachhaltiger die Fehler eingesehen, die er bei der Erziehung seines Sohnes gemacht hatte. Nach dem Hotelbrand war ihm schlagartig zu Bewusstsein gekommen, dass Avigdor jegliches Verantwortungsgefühl entbehrte und ausschließlich in seinen eigenen, mehr als oberflächlichen Interessen ziellos dahindriftete. Nicht, dass etwa Bronstein selbst sich im Verhältnis zu anderen Menschen große Rücksicht auferlegt hätte - im Gegenteil: Er war in langen Jahren der Urheber einer ganzen Reihe existenzieller Zusammenbrüche jener Mutigen gewesen, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Seine eminente geschäftliche Begabung, gepaart mit der Skrupellosigkeit des Aufsteigers, reduzierte die Anzahl seiner natürlichen Feinde auf ein Minimum.
Was ihn an seinem Sohn beunruhigte, war dessen absolute Abwesenheit jeglichen Machtbedürfnisses, der Grundvoraussetzung jeglicher Dominanz über die Umwelt, und damit der Schlüssel zum beruflichen ebenso wie zum gesellschaftlichen Erfolg. Im Gegensatz zu seinen Freunden, deren Väter in ähnlichen Positionen waren wie Samuel Bronstein, hatte sich Avi nicht im Geringsten für Geschäfte, Bankwesen oder sonstige Tätigkeiten interessiert. Offen gesprochen hatte er niemals irgendeine Neigung entwickelt, überhaupt einen Beruf zu ergreifen. Die Beherrschung bestimmter Wissensgebiete, das Gefühl, an den Schaltstellen eines Unternehmens zu sitzen, der Genuss der Servilität seiner Umgebung und insbesondere die Manipulation von Menschen und Vorgängen zu seinen Gunsten - das alles ließ Avi völlig kalt.
Auf diese Weise war Bronsteins Sohn in die Rolle eines Bonvivants gedriftet, dessen Geist gerade beweglich genug schien, um gegenüber dem weiblichen Geschlecht die Rolle des charmanten und witzigen Gastgebers spielen zu können. Gespräche über >ernste< Themen umging er gewöhnlich dadurch, dass er vorgab, dass ihn solche Diskussionen langweilten und jeder guten Party die Stimmung verdarben.
Einige unglückliche Vorfälle - hinsichtlich derer der Hotelbrand nur einen vorläufigen Höhepunkt darstellte - hatten Bronstein davon überzeugt, dass Avi im Begriff war, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Längst war ihm klar, dass sein Sohn dem Genuss von Kokain nachging, an dessen Verteilung und Vertrieb in den Staaten Bronstein selbst nicht völlig unbeteiligt war.
Er kannte selbstverständlich die Wirkung der Droge, die bei dem, der sie nimmt, früher oder später zu einem schweren Realitätsverlust führt, von dem man nicht so sehr körperlich, jedoch psychisch abhängig wird.
Genau diese Symptome hatte Avi in letzter Zeit gezeigt und sein Vater hatte selbst für seinen Geschmack zu oft alle Hände voll zu tun gehabt, Affären zu vertuschen, Polizeioffiziere zu schmieren und Entschädigungen zu zahlen.
Bronstein hatte über ein Jahr gebraucht, sich zu einer Lösung des Problems durchzuringen, was natürlich dadurch erschwert wurde, dass Avi sein einziger Sohn und Erbe war und er infolgedessen genötigt war, die Sache behutsam anzugehen. Das galt umso mehr, als Avi auf den Tod seiner Mutter 30 Jahre zuvor mit erheblichen psychischen Ausfällen reagiert hatte, die zu mehreren Klinikaufenthalten geführt hatten. Im Alter von 20 Jahren hatte sich sein Zustand plötzlich stabilisiert und es hatte eine ganze Weile den Anschein gehabt, als würde er dazu tendieren, doch noch in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, bis er vor acht Jahren in die falschen Kreise, nämlich den Zirkel von Los Angeles um den Film >Guru Somerset Jordan< geraten war. Seitdem war Avi für nichts mehr zugänglich gewesen. Zwar konnte Bronstein das Schlimmste verhindern, indem er seinen Sohn mit dem abrupten Ende seines Luxuslebens bedrohte, wie auch mit der Aussicht einer Enterbung. Seine Maßnahmen hatten jedoch keineswegs ausgereicht, Avi von der, wie er meinte, schiefen Bahn abzubringen.
Jetzt - im Sommer dieses Jahres - war Bronstein endlich zu einem Ergebnis gelangt und er ertappte sich dabei, wie er sich heimlich zu dem >Sanierungspaket< beglückwünschte, das er für Avigdor geschnürt hatte. Ein leichtes Lächeln spielte auf seinem Gesicht, als der Summer des Entrees zu seinem Büro ertönte.


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II, 5.


Giuliani tat sich zunächst schwer, zu unterscheiden, ob das Klingeln ein Bestandteil des Traums war oder tatsächlich der Anruf irgendeines Idioten, der mit Sicherheit auch noch falsch verbunden war. Seine Hoffnung, das Klingeln werde von selbst aufhören, erfüllte sich nicht: Der Anrufer wusste, dass Giuliani um diese Zeit etwas länger brauchen würde und wartete geduldig.
»Che c‘è? - was ist?«, schnauzte er in den Hörer.
»Sie müssen kommen, professore, sofort! Das Tuch...«
Giuliani fühlte sich, als ob er einen elektrischen Schlag erhalten hätte. Er war sofort hellwach. Das Tuch...
»Was ist passiert?«, schrie er den Anrufer an.
»Wir wissen es nicht, professore, etwas geschieht mit dem Tuch...«
Er schmiss den Hörer auf das Empfangsteil, das mit lautem Scheppern vom Nachttisch sprang.
»Emilio...?«, raunte seine Frau, aber da war er bereits aus dem Zimmer gestürzt, hatte sich in seine Hosen und sein Unterhemd gezwängt und rannte zur Garage, um seinen Fiat in Richtung Museumsinstitut zu starten. Dort angelangt, nahm er die Treppen zum Empfang mit drei Stufen auf einmal. In der Halle kam ihm der Assistent entgegen, der ihn angerufen hatte. Giuliani würdigte ihn keines Blickes, als dieser ihm »Untersuchungssaal« zurief.
Der Untersuchungssaal war größer als ein gewöhnlicher Operationssaal. Giuliani verscheuchte unwirsch eine Gruppe von Kollegen, die sich um ein Elektronenmikroskop versammelt hatten. Er hatte das Recht dazu, denn er war der Leiter der Untersuchungskommission, die sich mit intensiven Analysen des mutmaßlichen Grabtuchs Jesu Christi, des Turiner Grabtuchs, beschäftigte. Nahezu sämtliche Erkenntnisse, die im Laufe der letzten Jahre und damit in der modernen Wissenschaft, über die Reliquie gemacht worden waren, waren dem Team unter Giuliani zu verdanken.
Ja, es hatte ein Mensch in dem Tuch gelegen. Er war nach dem Exitus darin eingewickelt worden: Die Spuren bestanden vor allem aus Blut, Wundsekret, Plasma und anderen Körperflüssigkeiten. Keine Färbemittel. Die abgebildeten Wundmale entsprachen in ihrer Zusammensetzung den zu erwartenden physiologischen Reaktionen auf die zugefügten Verletzungen. Abdrücke von Münzen auf den Augen wiesen Prägemuster auf, die um 30 nach Christi in Judäa und Palästina üblich waren. Die Körperformen des Mannes hatten sich, wie unter der Einwirkung großer Hitze gleich einem fotografischen Effekt, als Negativ in das Tuch eingeprägt, ohne dessen Webstrukturen zu beschädigen. Ebenso entsprach das verwendete Material des Tuchs in Konsistenz und Webart den damals benutzten Tüchern zur Aufbewahrung von Toten.
Die von Kritikern zunächst kritisierte 1:1-Abbildung des Körpers, die nach deren Ansicht hätte flach sein müssen, war nach Erkenntnis etlicher Versuche auf die besondere Lage des Grabtuchs zurückzuführen, das wie eine Leinwand gewirkt hatte, und natürlich auf den fotoelektrischen Effekt. Als wäre der Abdruck mit Bedacht herbeigeführt worden, um das Bild des Mannes zu konservieren. Nur eins hatte man nicht klären können, und nach Ansicht Giulianis würde dies auch so bleiben: Die Identität des Mannes, der in diesem Tuch geborgen worden war.
Giuliani blickte in das Mikroskop. Im Saal herrschte Totenstille. Er keuchte, trat zurück, rieb sich die Augen.
»Ma che cosa...?«
Der Assistent hinter ihm raunte ihm zu: »Es hat bei den Augen begonnen, und jetzt ist es schon im ganzen Gesicht.«
Giuliani rang um Fassung. Er sah noch einmal durch das Okular, drückte auf den Knopf neben dem Mikroskop, um die maximale Schärfe herzustellen. Er blickte entsetzt, und ohne zu begreifen, auf sich windende, fadenartige Strukturen, winzige Bruchstücke, die sich vom umliegenden Gewebe trennten, Farben, die sich ineinander mischten und dann auflösten. Giuliani wischte sich den Schweiß von den Schläfen.
Das Turiner Grabtuch zersetzte sich vor seinen Augen.


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VII, 5.


Es wird niemals bis ins Letzte zu ergründen sein, warum Beal Yale die Frau nicht tötete. Mitleid oder gar Respekt vor dem Leben werden es nicht gewesen sein, das läge ihm völlig fern. War sie nicht interessant genug für ihn, getötet zu werden, wegen des bisschen Lebens, das noch in ihr war? Dachte er, der Tod würde ohnehin bald sein Werk vollendet haben? Oder war er an diesem Tag einfach nur... satt?
Als er, nachdem sein Nachrichtendienst die Adresse ausfindig gemacht hatte, die ärmliche Wohnung von Caroline Bassey betrat, tat er es nicht als Eindringling, sondern als Besucher. Er läutete artig an der Tür, angetan mit einem grauen Anzug, und wurde von einem postwendend ertönenden Summen belohnt, das das Öffnen der Tür begleitete. Er trat ein, vorsichtig, sich nach allen Seiten umsehend.
Warum muss ich immer alles selber machen?, dachte er unvermittelt, mit einem Anflug von Missmut. Die Antwort fiel ihm praktisch sofort ein: Weil du niemandem vertraust. Und weil es dir Spaß macht, gewisse... Arbeiten selbst zu erledigen. Er musste unwillkürlich grinsen. Wie entwaffnend ehrlich sein >alter Ego< doch war. Dennoch wusste er, dass sich dies irgendwann einmal ändern musste, wollte er wirklich ein Herrscher sein. Zum Beispiel im Senat.
Er zwang sich, sich wieder auf seine Umgebung zu konzentrieren. Die Wohnung lag im Halbdunkel, die Vorhänge waren zugezogen und es roch muffig. Trotzdem spürte Beal Yale ihre Anwesenheit. Die Dielen knarzten unter seinen Schuhen und er sah, als er das Wohnzimmer betrat, wie eine in einem Rollstuhl zusammengekauerte Frau ruckartig ihren Kopf hob.
»Whoo‘ ssaat?«, nuschelte sie im Dialekt des amerikanischen Südens und bemühte sich, mit zusammengekniffenen Augen den Mann zu erkennen, der etwa zwei Meter vor ihr stand.
»Beal Yale, mein Name«, stellte er sich vor. Er brachte seinen Mund nahe an das linke Ohr der Frau, um sich verständlich zu machen. Multiple Sklerose, dachte er rasch. Wird nicht mehr lange dauern. Sie war um fünfzig Jahre gealtert seit damals.
»Erinnern Sie sich an mich? Der Junge, den Sie zu den Yales brachten? Vor zehn Jahren?«
Sie erinnerte sich, aber sie wollte nicht. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen das würgende Unwohlsein, das sie schon seinerzeit in der Gegenwart dieser... Kreatur empfunden hatte.
Sie keuchte mit asthmatischer Stimme. »Ich... weiß. John Beal. Sie kamen aus dem New Yorker Waisenhaus.«
Sie zwang sich, ihn anzusehen. Es waren die gleichen Augen. Tot und leer. Sie schaffte es, gegen ihre Angst anzukämpfen. Was habe ich denn zu verlieren?
»Was wollen Sie von mir?«
»Einige Informationen, Madam.« Er entschied sich für Höflichkeit. Zunächst. »Wie heißt das Waisenhaus?«
»Das >Dryden Children‘s Home<, Sir.« Sie kicherte angesichts des Zynismus des Namens. »Es liegt in Queens.«
»Gab es Unterlagen? Über meine Eltern? Eine Akte?«
»Oh, die gab es ganz sicher, Sir. Nur... wir haben sie nicht bekommen. Alles, was die Adoptionsbehörde erhielt, war ein abrissartiger Lebenslauf. Mehr nicht. Und später die Dokumente der Adoption. Die Akte müsste eigentlich existieren.«
»Was stand in dem Lebenslauf? Wissen Sie das?«
»Zwei, drei Zeilen. Tod der Eltern durch Verkehrsunfall. Sie wurden, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, von zwei Ärzten ins Waisenhaus gebracht.«
Beal Yale ging unruhig in dem karg eingerichteten Zimmer hin und her, blickte aus dem Fensterspalt zwischen den angestaubten Vorhängen hinunter auf einen der allerschäbigsten Hinterhöfe von Atlanta. Er verspürte sekundenlang das Bedürfnis, die Frau zu schlagen, beherrschte sich aber.
»Sonst fällt Ihnen nichts ein? Details, irgendwelche Bemerkungen?«
Sie zögerte. Was bezweckte er mit diesen Fragen? Was kann er tun, wenn ich ihm behilflich bin? Beal Yale trat näher an sie heran. Er kann dir immer noch wehtun, dachte sie. Sie hob die Schultern.
»Es gab... Gerüchte. Nichts Greifbares. Misshandelte Kinder in Dryden‘s Waisenhaus, etwa ab dem zweiten Jahr nach Ihrer Einlieferung.« Gott, da war er gerade vier. »Man konnte nie eine Verbindung der Vorfälle mit Ihnen nachweisen. Trotzdem glaubten alle daran. Es sah aus wie eine Folter, die zunehmend raffinierter wurde, je länger die Ereignisse stattfanden. Der Täter lernte an den Kindern. Ich hatte eine Bekannte dort, die hat es mir erzählt. Sie wollten es wohl geheim halten, sonst hätte eine Freigabe zur Adoption nie erfolgen können. Sie wollten Sie unbedingt loswerden.« Sie machte eine Pause, erschöpft. Dann fuhr sie fort: »Solche und ähnliche Details. Man nannte Sie den Rattenfänger, weil Sie einige der Insassen förmlich hypnotisierten, hieß es. Keiner hat sich hingegen an Ihnen vergriffen. Obwohl das mit... schwierigen Kindern in einem Waisenhaus nicht selten passiert. Sehr viel mehr weiß ich nicht.« Sie sah zu ihm hoch. »Ehrlich.«
Beal Yale nickte versonnen und blickte zu ihr hinunter.
»Wenn ich jetzt dort rausgehe, dann werden Sie wohl allen möglichen Leuten erzählen, dass ich hier war, oder?«, fragte er leise.
Sie wusste, worauf die Frage hinauslief. Sie sah einen Moment lang an sich hinunter. Es war ihr egal, stellte sie fest. Ihre Angst war allenfalls eine Erinnerung, keine Empfindung mehr. Sie hob den Kopf, schaute ihn an.
»Es gibt niemanden mehr. Niemanden, der mich kennt, niemanden, der zuhört. Es interessiert mich nicht, was Sie tun und... wer Sie sind. Machen Sie, was Sie wollen.«
»Glauben Sie, Madam, dass ich böse bin?«, fragte er. »Dass ich böse geboren bin?«
Sie sah ihn unverwandt an, blickte geradewegs in die Pupillen mit den orangefarbenen Einschlüssen. »John Beal, Sie sind die Hölle selbst.«
Sie schloss die Augen in Erwartung des Endes. Erst nach einer Weile hörte sie, wie die Wohnungstür leise ins Schloss fiel.