Christoph Woltering

Nattern an der Brust
Eine Mafiageschichte



17.

Ein ganz gewöhnlicher Oktobertag. Die Hitze wurde verdrängt und zeitweise setzte Regen ein. Ein Tiefausläufer aus Schottland beherrschte das Wettergeschehen. Dieter Schwarze hatte ausgiebig gefrühstückt und war mit frischem Elan in den beginnenden Arbeitstag eingestiegen. Das hatte sich urplötzlich geändert. Auf dem Schreibtisch lag das Schreiben mit dem brisanten Inhalt, und im Raum hing der süßlich parfümierte Geruch, den der Geldbote hinterlassen hatte.

Der Bote war zu einer ungewohnten Zeit erschienen. Der Konzernchef hatte einen ersten Rundgang über das Firmengelände beendet und wollte die Schreibtischarbeit fortführen, als der längst überfällige Mafiabote erschien. Das elegante Auftreten, worauf der Geldbote in früheren Tagen besonderen Wert legte, war wie weggeblasen. Kurz und knapp forderte er den höheren Betrag. 120.000 D-Mark waren fällig. Der Rückstand von zwei Monaten plus Zinsen, genau die Summe, die sein Chef verlangte. Obwohl der Besuch seit Tagen von ihm erwartet wurde, spürte er sofort wieder den aufkommenden Hass aufsteigen, der jedoch in die gleiche Hilflosigkeit überging, wie bei allen Besuchen vorher. Dieter hatte erklärt, er habe das Geld nicht, eine solch hohe Summe könne er nicht zahlen. Die Kosten für die Schadensbeseitigung am Westfruchtgebäude seien hoch gewesen und die Westfrucht GmbH stecke gegenwärtig in roten Zahlen. Die Reserven würden für neue Investitionen gebraucht.

Der Rumäne war für einen Südländer erstaunlich ruhig geblieben. »Das hatten wir alles schon einmal, Herr Schwarze«, waren die Worte über die schmalen Lippen gekommen. »Oder haben Sie die letzte Zusammenkunft bereits wieder vergessen? Ich kann Sie beruhigen. Es wird heute zu keiner Kostprobe kommen. Die Konsequenzen werden Sie später tragen müssen - Sie und Ihre Familie.«

Die letzten Silben wurden betont leise gesprochen. Dann hatte der Rumäne den Brief aus seinem Jackett hervorgeholt und diesen behutsam auf den Schreibtisch gelegt.

Die Vorstellung war vor einigen Minuten erfolgt und mit dem Schriftstück trat der zweite Teil der Erpressung in Kraft. Die Bande benötigte die Warentransporte der Westfrucht für ihre Interessen. Zwei Monate lang hatte Schwarze gehofft, die Mafia würde diesen Teil der Forderungen auslassen. Die Nachricht sagte es anders: Am Samstagabend sollte eine bestimmte Lieferung aus Rumänien eintreffen. Insgesamt acht Behälter, die vom Geldboten am Gütergleis der Westfrucht in Empfang genommen würden. Die Behälter wären leicht zu erkennen. Zugeschweißte Blechkanister, alle mit dem Aufkleber Pistazienkerne versehen. Eigentlich eine ungefährliche Sache, dachte er. Samstags ruhte in den Dienststellenbüros der Zollämter die normale Arbeit, und der Güterwaggon erhielt als Frischwarentransport erfahrungsgemäß den Sonderstatus. Waggons mit verderblichen Lebensmitteln wurden in der Regel nicht kontrolliert. Da reichte den Behörden der versiegelte Zollverschluss. Nur wollte er mit einem Schmuggel nichts zu tun haben. Er gedachte nicht, den Hiobsbotschaften der Suchtberatungsstellen etwas hinzuzufügen.

Seit dem Besuch des Mafiaboten waren Stunden vergangen, als Frank Weyers den Kopf durch die Bürotür steckte. Der Freund wollte Neuigkeiten austauschen und von der Stippvisite im Bestattungsunternehmen berichten. Es war notwendig geworden, die beiden Freunde hatten seit Tagen nicht miteinander gesprochen.

In kurzen Sätzen berichtete Dieter Schwarze von den neuen Forderungen der Mafiabande. »120.000 Mark! Woher soll ich das Geld nehmen? Die letzten Reserven haben die Reparaturen aufgebraucht. Der gesamte Eingangsbereich musste neu gestaltet werden.«

»Soll ich dir das Geld vorstrecken?«, bot sich Frank an.

»Nein, Frank! Das ist lieb von dir gedacht. Aber ich möchte nicht, dass irgendetwas unsere Freundschaft stört.«

»In Ordnung, Dieter!«

Weyers respektierte die Entscheidung und legte beruhigend den Arm auf die Schulter des Freundes. Anschließend nahm er sich den Brief vor.

»Ich glaube, wir haben eine Gelegenheit gefunden, wie wir den Verbrechern auf die Spur kommen«, äußerte er sich spontan, als er das Schreiben durchgelesen hatte. »Hier steht, am Samstagabend treffen die Behälter, auf die unsere Mafiosi so besonders scharf sind, am Gütergleis ein. Wir werden den Weg der Blechdosen verfolgen. Irgendwohin müssen die Behälter ja schließlich gebracht werden. Wenn wir das wissen, dann haben wir neben dem Bistro und dem Beerdigungsinstitut einen weiteren Punkt, wo wir ansetzen können. Ich denke, es wird nicht einfach sein, jedoch wenn wir vorsichtig vorgehen, könnte es klappen.«

Erst jetzt erzählte Frank ausführlich von seinem Besuch bei Iremescu. Berichtete, dass er in einem der dort Beschäftigten den Beifahrer des Mercedes erkannt hatte, der ihm nach dem letzten Besuch in der Maximilianstraße, gefolgt sei. Umgekehrt glaube er nicht, dass der Rumäne ihn ebenfalls wieder erkannt habe. In dem Moment, als er mit Iremescu den Arbeitsraum betrat, sei dieser hinausgegangen. Die Zeitspanne sei zu gering gewesen.

Dann berichtete Frank von der Existenz einer moldauischen Bruderschaft und dass ein großer Teil der Gewinne, die das Orthodox-Anatolische Bestattungsinstitut erwirtschaftete, in erster Linie rumänischen Landsleuten zugute käme. Der Freund erwähnte, dass Iremescus Organisation achtzehn Rumänen beschäftigte. Alles ehemalige Asylsuchende, die in Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft gelangt waren. Das Gespräch mit ihm hätte die Ahnungen bestärkt: Das Unternehmen wäre eine Zentralstelle des organisierten Verbrechens und Iremescu einer der Köpfe, möglicherweise das Haupt eines gut organisierten Gangstersyndikats. Iremescu hatte mit seinem leutseligen Sprechen eine große Entgleisung begangen, als er voller Stolz von der moldauischen Bruderschaft sprach. Mit dieser gemeinnützigen Institution, versprach Frank Weyers, wolle er sich näher beschäftigen.

Dieter hatte noch viele Fragen an den Freund, als ein Telefonat ihr Gespräch beendete. Es gab Probleme bei der Warenauslieferung, die unbedingt die Anwesenheit des Großhändlers in der Lagerhalle erforderte. So unerwartet der Besuch war, so unerwartet ging dieser auch zu Ende.